Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
dass es auch biologische Gründe gibt, warum fast alle Kulturen der Männlichkeit gegenüber der Weiblichkeit den Vorzug geben. Was diese Gründe sein könnten, wissen wir nicht; es gibt zwar viele Theorien, doch keine ist völlig schlüssig.
Muskelkraft
Die gängigste Theorie behauptet, Männer seien körperlich stärker als Frauen und hätten die Frauen mit schierer Muskelkraft unterdrückt. Eine etwas subtilere Variante besagt, Männer hätten körperlich anspruchsvolle Aufgaben wie Pflügen und Ernten an sich gerissen, und mit der Kontrolle über die Nahrungsmittelproduktion hätten sie die politische Macht gewonnen.
Diese Theorie hat zwei entscheidende Schwächen. Erstens trifft die Aussage »Männer sind stärker als Frauen« nur auf den Durchschnitt zu und bezieht sich nur auf bestimmten Arten der Stärke. Im Allgemeinen sind Frauen nämlich widerstandsfähiger gegen Hunger, Krankheit und Erschöpfung als Männer. Es gibt auch viele Frauen, die schneller laufen und schwerere Lasten tragen können als Männer. In der Vergangenheit wurden Frauen eher von geistigen Tätigkeiten ausgeschlossen (zum Beispiel Priesterschaft, Recht und Politik) und übernahmen körperlich anstrengende Tätigkeiten in Landwirtschaft, Industrie und Haushalt. Wenn die gesellschaftliche Macht nach der körperlichen Kraft und Ausdauer vergeben worden wäre, dann hätten Frauen ein größeres Stück vom Kuchen abbekommen.
Aber das entscheidendere Gegenargument ist, dass in menschlichen Gesellschaften kein Zusammenhang zwischen Körperkraft und Macht besteht. In der Regel herrschen Sechzigjährige über Zwanzigjährige, obwohl die Jüngeren deutlich stärker sind. Ein amerikanischer Plantagenbesitzer wäre von jedem seiner Sklaven, die auf seinen Baumwollfeldern arbeiteten, mühelos überwältig worden. Ägyptische Pharaonen oder katholische Päpste werden nicht im Boxkampf ausgewählt. Gruppen von Jägern und Sammlern wurden von den Männern mit der größten Sozialkompetenz geführt, und nicht von Muskelprotzen. Selbst in Verbrechersyndikaten ist der Boss nicht unbedingt der Stärkste: Es ist oft ein älterer Mann, der sich selten die Hände schmutzig macht und die Drecksarbeit von jüngeren und kräftigeren Männern erledigen lässt. Wer glaubt, zum Mafiaboss aufsteigen zu können, indem er alle anderen aus dem Weg räumt, der lebt nicht lange genug, um seinen Irrtum zu erkennen. Sogar bei Schimpansen gewinnt das Alphamännchen seine Position, indem es stabile Bündnisse mit anderen Männchen und Weibchen eingeht, und nicht durch hirnlose Gewalt.
In Wirklichkeit stand in der Geschichte der Menschheit die Körperkraft oft im indirekten Verhältnis zur gesellschaftlichen Macht. In den meisten Gesellschaften ist die harte körperliche Arbeit das Vorrecht der unteren Schichten. Bergarbeiter, Soldaten, Hausfrauen, Sklaven oder Reinigungskräfte wenden mehr Muskelkraft auf als Könige, Hohepriester, Vorstandsvorsitzende, Richter oder Generäle. Das ist ein gutes Spiegelbild der Stellung des Homo sapiens in der Nahrungskette. Wenn es nach der Muskelkraft ginge, müsste sich der Mensch irgendwo in der Mitte befinden. Dank seiner Intelligenz und Sozialkompetenz hat er sich jedoch an die Spitze gesetzt. Es ist daher nur logisch, dass auch innerhalb der Art die Stellung von der Intelligenz und Sozialkompetenz abhängt und nicht von der schieren Muskelkraft. Auch wenn Männer den Frauen körperlich in gewisser Hinsicht überlegen sind, ist es daher kaum glaubhaft, dass eine der wichtigsten und dauerhaftesten Hierarchien der Geschichte allein auf der körperlichen Überlegenheit beruhen soll.
Der Abschaum der Erde
Eine weitere Theorie behauptet, die Männer hätten ihre Vorherrschaft weniger ihrer Muskelkraft als ihrer Aggression zu verdanken. In einer Jahrmillionen langen Evolution seien Männer deutlich gewalttätiger geworden als Frauen. Frauen stünden Männern zwar an Hass, Gier und Missbrauch in nichts nach, aber wenn es hart auf hart gehe, seien Männer eher bereit, zu körperlicher Gewalt zu greifen. Daher sei der Krieg auch immer die Domäne der Männer.
In Kriegszeiten schwangen sich Männer mit ihren Waffen auch zu Herrschern über die Zivilgesellschaft auf. Diese Herrschaft nutzten sie dann, um immer neue Kriege vom Zaun zu brechen, und je mehr Kriege es gab, umso unerschütterlicher sei ihre Herrschaft über die Gesellschaft geworden. Damit sei ein weiterer Teufelskreis entstanden, und dieser erkläre die Allgegenwart von Krieg
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