Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Im Laufe der Geschichte gab es viele Kulturen, allen voran das Griechenland der Antike, in denen homosexuelle Beziehungen nicht nur erlaubt waren, sondern als vollkommen natürlich galten. In Homers Ilias scheint Thetis jedenfalls keine Einwände gegen die Beziehung ihres Sohnes Achilles zu Patrokles gehabt zu haben. Und Königin Olympias von Makedonien (eine der mächtigsten Frauen der Antike, die angeblich ihren Mann ermorden ließ) hatte offenbar nichts dagegen, als ihr Sohn Alexander der Große seinen Geliebten Hephaestion zum Essen nach Hause brachte.
Aber woher sollen wir wissen, was auf biologischen Tatsachen beruht und was auf bloßen Mythen? Eine gute Faustregel lautet: »Die Biologie erlaubt, die Kultur verbietet.« Die Biologie lässt eine große Bandbreite von Möglichkeiten zu. Die Kultur zwingt ihre Angehörigen dagegen, sich für eine kleine Auswahl dieser Möglichkeiten zu entscheiden. Die Biologie gibt Frauen die Möglichkeit, Kinder zu bekommen – und die Kultur zwingt die Frauen dazu, diese Möglichkeit wahrzunehmen. Die Biologie gibt Männern und Frauen die Möglichkeit, Geschlechtsverkehr mit dem eigenen Geschlecht zu haben – und die Kultur verbietet ihnen, diese Möglichkeit wahrzunehmen.
Die Kultur behauptet gern, sie verbiete »unnatürliche« Dinge. Aber aus biologischer Sicht ist nichts unnatürlich. Alles was möglich ist, ist definitionsgemäß auch natürlich. Eine unnatürliche Verhaltensweise, die den Gesetzen der Natur widerspricht, kann es gar nicht geben, weshalb es völlig sinnlos ist, sie verbieten zu wollen. Keine Kultur hat sich je die Mühe gemacht, Männern die Photosynthese oder Frauen die Fortbewegung mit Überlichtgeschwindigkeit zu verbieten.
In Wirklichkeit stammen unsere Vorstellungen von »natürlich« und »unnatürlich« nämlich nicht aus der Biologie, sondern aus der christlichen Theologie. Für die Theologen bedeutete »natürlich« nichts anderes als »im Einklang mit den Absichten Gottes, der die Natur erschaffen hat«. Christliche Theologen behaupteten, Gott habe den menschlichen Körper geschaffen und jedem Körperteil und Organ eine bestimmte Funktion zugedacht. Solange wir unsere Körperteile und Organe in der von Gott beabsichtigten Weise benutzen, handelt es sich um eine »natürliche« Tätigkeit. Benutzen wir sie aber anders, dann handeln wir »widernatürlich«. Doch die Evolution kennt keine Absicht. Die Organe haben sich nicht mit einem bestimmten Zweck entwickelt, und ihr Gebrauch ändert sich ständig. Kein einziges Organ unseres Körpers wird heute noch so gebraucht wie zur Zeit seiner Entstehung vor Hunderten Millionen Jahren. Organe entwickeln sich, um bestimmte Aufgaben zu übernehmen, doch sobald sie existieren, lassen sie sich zu ganz neuen Zwecken verwenden. Der Mund entstand beispielsweise, weil die ersten Vielzeller eine Möglichkeit benötigten, um ihrem Körper Nahrung zuzuführen. Dazu benutzen wir ihn bis heute, aber nebenbei gebrauchen wir ihn außerdem, um zu küssen und zu sprechen. Sind diese Verwendungszwecke etwa unnatürlich, nur weil unsere wurmartigen Vorfahren vor 600 Millionen Jahren noch nicht daran gedacht haben?
Auch Flügel entstanden nicht von einem Tag auf den anderen in all ihrem aerodynamischen Glanz, sondern entwickelten sich aus Organen, die ursprünglich eine ganz andere Funktion hatten. Einer Theorie zufolge entwickelten sich Insektenflügel vor vielen Millionen Jahren aus Vorstülpungen an den Körpern flugunfähiger Käfer. Der ursprüngliche Zweck dieser Organe bestand darin, die Körperoberfläche zu vergrößern, um mehr Sonnenlicht aufzunehmen und das Insekt zu wärmen. In einem langsamen evolutionären Prozess wurden diese Sonnenkollektoren immer größer und aerodynamischer, da einige Insekten dazu übergingen, sich mit diesen Apparaten nicht nur zu sonnen, sondern damit zu springen, zu gleiten und schließlich zu fliegen. Aus theologischer Sicht könnten wir den Bienen und Mücken von heute vorwerfen, sie handelten widernatürlich, weil sie ihre Flügel zum Fliegen benutzen statt damit nur artig Sonnenlicht aufzunehmen.
Auch Geschlechtsorgane und sexuelle Beziehungen entwickelten sich zunächst ausschließlich zum Zweck der Fortpflanzung, aber irgendwann begannen viele Tiere, sie für eine ganze Reihe sozialer Zwecke zu benutzen, die nichts mit der Fortpflanzung zu tun haben. Schimpansen benutzen sexuelle Beziehungen beispielsweise, um Bündnisse zu festigen, Intimität zu schaffen und Spannung
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