Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
ihrer Väter, Brüder oder Gatten. Viele Rechtssysteme betrachteten die Vergewaltigung einer Frau als Eigentumsdelikt – das Opfer war nicht etwa die vergewaltigte Frau, sondern ihr männlicher Besitzer. Eine »Strafe« für die Vergewaltigung einer unverheirateten Frau konnte beispielsweise darin bestehen, dass der Täter die Mitgift entrichtete und die Frau damit kaufte. In der Bibel heißt es beispielsweise: »Wenn jemand eine Jungfrau trifft, die nicht verlobt ist, und ergreift sie und wohnt ihr bei und wird dabei betroffen, so soll, der ihr beigewohnt hat, ihrem Vater fünfzig Silberstücke geben und soll sie zur Frau haben, weil er ihr Gewalt angetan hat; er darf sie nicht entlassen sein Leben lang.« (5. Mose 22, 28-29) In den Augen der alten Israeliten war dies eine gerechte Lösung.
Die Vergewaltigung einer Frau, die keinem Mann gehörte, galt dagegen nicht als Vergehen – genau wie es kein Diebstahl ist, auf einer belebten Straße eine verlorene Münze aufzulesen. Wenn der Ehemann seine Frau vergewaltigte, galt dies ebenfalls nicht als Verbrechen. Im Gegenteil, die Vorstellung, dass ein Mann seine Frau vergewaltigen könnte, galt als Widerspruch in sich: Als Ehemann hatte er schließlich die volle Herrschaft über die Sexualität seiner Frau. Die Vorstellung, ein Mann könne seine eigene Frau vergewaltigen, war genauso unlogisch wie die Vorstellung, er habe seinen eigenen Geldbeutel gestohlen. Diese Vorstellung war keineswegs auf den Nahen Osten zur Zeit der Bibel beschränkt. Im Jahr 2006 gab es noch immer 53 Länder, in denen ein Mann nicht für die Vergewaltigung seiner Frau belangt werden konnte. In Deutschland wird der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 anerkannt, in Österreich und der Schweiz sogar erst seit 2006. 53
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Ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen ein Fantasieprodukt, wie das Kastensystem in Indien oder die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten? Oder handelt es sich um einen natürlichen Unterschied? Anders gefragt, gibt es biologische Gründe für die Privilegien, die Männer gegenüber Frauen genießen?
In einigen Fällen spiegeln sich in der kulturellen, juristischen und politischen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen tatsächlich vorhandene biologische Unterschiede wider. Die Geburt der Kinder war schon immer Aufgabe der Frau, da Männer nun einmal keine Gebärmutter haben. Aber um diesen harten biologischen Kern herum hat jede Gesellschaft zahlreiche Schichten von kulturellen Vorstellungen und Normen gelegt, die nichts mit der Biologie zu tun haben. Fast alle Eigenschaften, die Gesellschaften »Männern« und »Frauen« zuschreiben, sind angeblich natürlich, aber in Wirklichkeit entbehren sie meist jeder biologischen Grundlage.
Beispielsweise galt im demokratischen Athen des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung ein Mensch mit einer Gebärmutter nicht als juristische Person und hatte nicht das Recht, an Volksversammlungen teilzunehmen oder Richter zu werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erhielt so ein Mensch keine gute Schulbildung und konnte weder Philosoph noch Künstler oder Händler werden. Keiner der politischen Führer, Philosophen, Redner und Künstler Athens hatte eine Gebärmutter. Gibt es dafür einen biologischen Grund? Die antiken Athener meinten, ja. Die modernen Athener widersprechen dem. Im modernen Griechenland können Frauen wählen und studieren, ohne dass ihre Gebärmutter sie daran hindern würde. Sie sind zwar in der Politik und in der Wirtschaft nach wie vor unterrepräsentiert, und nur 12 Prozent der Abgeordneten des griechischen Parlaments sind Frauen. Doch es gibt kein Gesetz, das ihnen verbietet, Richterin oder Ministerpräsidentin zu werden.
Viele moderne Griechen sind außerdem der Auffassung, es gehöre zum »Mannsein«, sich nur zu Frauen hingezogen zu fühlen und ausschließlich mit Frauen sexuelle Beziehungen einzugehen. Für sie handelt es sich hierbei nicht um ein kulturelles Vorurteil, sondern um eine naturgegebene Tatsache: Sexuelle Beziehungen zu Angehörigen des anderen Geschlechts sind »natürlich«, und sexuelle Beziehung zu Angehörigen des eigenen Geschlechts sind »widernatürlich«. In Wirklichkeit ist es Mutter Natur allerdings egal, ob sich Männer zu anderen Männern hingezogen fühlen – nur menschliche Mütter, verwurzelt in ihren eigenen Kulturen, regen sich auf, wenn ihr Sohn dem Nachbarsjungen nachsteigt. Mit der Natur hat der mütterliche Wutausbruch allerdings nichts zu tun.
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