Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
irgendwann Ihre Schuhe kaputt. Also spannen Sie Ihren Esel vor Ihren Karren und fahren in den Marktflecken am Fluss. Ihr Nachbar hat Ihnen erzählt, dass ihm der Schuhmacher auf der Südseite des Markts ein Paar Stiefel gemacht hat, die fünf Jahre lang gehalten haben. Diesen Schuster besuchen Sie nun und bieten ihm an, einige Ihrer Äpfel gegen ein Paar Schuhe zu tauschen.
Der Schuhmacher zögert. Wie viele Äpfel soll er für ein Paar Schuhe nehmen? Jede Woche kommen Dutzende Kunden zu ihm, von denen einer einen Sack Äpfel, ein zweiter Weizen, ein dritter Ziegen und ein vierter Stoffe mitbringt, und zwar jeder in ganz unterschiedlicher Qualität. Dann hat er auch noch Kunden, die Bittschreiben an den König aufsetzen oder Rückenschmerzen kurieren können. Als ihm das letzte Mal jemand Äpfel geboten hat, hat er sich drei Säcke geben lassen. Oder waren es vier? Aber das waren ja auch die sauren Äpfel aus dem Tal gewesen. Andererseits hat er damals auch nur ein kleines Paar Frauenschuhe hergestellt, und Sie wollen ja robuste Stiefel. Dazu kommt, dass in den letzten Wochen eine Epidemie die Schafe in der Gegend dezimiert hat und Häute selten geworden sind. Die Gerber verlangen inzwischen doppelt so viele Paar fertige Schuhe für dieselbe Menge Leder. Sollte der Schuster das nicht irgendwie einkalkulieren?
In einer Tauschwirtschaft müssen Sie und der Schuhmacher jeden Tag den relativen Wert von Dutzenden Waren ermitteln. Wenn in Ihrer Stadt 100 Waren gehandelt werden, müssen Käufer und Verkäufer 4950 verschiedene Wechselkurse kennen. Und wenn 1000 Waren gehandelt werden, wären dies schon 499500 Wechselkurse! 59 Wie sollen Sie da den Überblick bewahren?
Aber es kommt noch dicker. Selbst wenn Sie ermitteln, wie viele Äpfel einem Paar Schuhe entsprechen, kommt es nicht unbedingt zum Geschäft. Zum Tausch kommt es nämlich nur, wenn der Käufer etwas zu bieten hat, was der Verkäufer auch will. Was passiert, wenn der Schuster keine Äpfel mag und wenn er gerade jetzt jemanden brauchen könnte, der ihm bei seiner Scheidung hilft? Sie könnten sich natürlich nach einer Anwältin umsehen, die Äpfel mag, und ein Dreiecksgeschäft vorschlagen. Aber was ist, wenn die Anwältin den Keller voller Äpfel hat und lieber eine neue Frisur hätte?
Einige Gesellschaften haben versucht, dieses Problem mit Hilfe eines zentralen Tauschsystems zu lösen. Dort liefern die verschiedenen Spezialisten ab, was sie produziert haben, und nehmen sich mit, was sie brauchen. Das größte und bekannteste Experiment dieser Art wurde in der Sowjetunion durchgeführt, und es scheiterte kläglich. Bescheidenere Experimente dieser Art, zum Beispiel im Reich der Inkas, hatten mehr Erfolg. Doch die meisten Gesellschaften fanden eine einfachere Möglichkeit, eine große Zahl von Spezialisten miteinander zu verbinden – sie erfanden das Geld.
Muscheln und Zigaretten
Das Geld wurde oft und an vielen Orten erfunden. Seine Erfindung erforderte keinen technischen Durchbruch – es handelte sich um eine rein geistige Revolution. Dazu gehörte die Schaffung einer neuen, intersubjektiven Wirklichkeit, die nur in der gemeinsamen Vorstellung der Menschen existiert.
Geld muss nicht aus Münzen und Banknoten bestehen. Geld kann alles sein, was wir benutzen wollen, um systematisch den Wert anderer Dinge auszudrücken und damit Waren und Dienstleistungen zu tauschen. Mit Hilfe des Geldes können wir schnell und einfach den Wert verschiedener Güter vergleichen (zum Beispiel Äpfel, Schuhe und Scheidungen), ein Gut gegen ein anderes tauschen und unser Vermögen aufbewahren. Im Laufe der Geschichte gab es die verschiedensten Währungen. Die bekannteste ist die Münze: Ein Stück Metall einer bestimmten Größe, in das verschiedene Symbole geprägt werden. Doch Geld gab es schon lange bevor die erste Münze geschlagen wurde, und andere Kulturen verwendeten Muscheln, Kühe, Häute, Salz, Getreide, Perlen, Stoff oder Schuldscheine. Über vier Jahrtausende hinweg wurden in Afrika, Südasien, Ostasien und Ozeanien Kaurischnecken als Zahlungsmittel verwendet. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten die Menschen in Uganda ihre Steuern mit Kaurischnecken bezahlen.
In modernen Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern sind Zigaretten ein beliebtes Zahlungsmittel. Selbst Nichtraucher sind bereit, Zigaretten als Währung zu akzeptieren und den Wert von Waren und Dienstleistungen in Zigaretten zu berechnen. Ein Überlebender von Auschwitz erinnert sich: »Wir
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