Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
beginnen.
Nehmen wir nun den entgegengesetzten Fall an, Gott hätte beschlossen, das Universum solle in einem Zustand großer Ordnung enden, doch es sei gleichgültig, in welchem es beginne. Dann würde sich das Universum anfangs wahrscheinlich in einem ungeordneten Zustand befinden. Folglich würde die Unordnung mit der Zeit abnehmen. Zersplitterte Tassen würden sich zusammenfügen und auf den Tisch springen. Alle Menschen, die solche Tassen beobachteten, würden in einem Universum leben, in dem die Unordnung mit der Zeit abnähme. Ich behaupte, solche Geschöpfe würden einen rückwärts gerichteten psychologischen Zeitpfeil haben. Das heißt, sie würden sich an Ereignisse in der Zukunft erinnern, nicht an Ereignisse in ihrer Vergangenheit. Wenn die Tasse zersprungen wäre, würden sie sich nicht daran erinnern, wie sie auf dem Tisch gestanden hat, während sie, wenn sie auf dem Tisch stünde, sich daran erinnerten, daß sie auf dem Boden läge.
Es ist schwer, über das menschliche Gedächtnis zu sprechen, weil wir nicht wissen, wie das Gehirn im Detail funktioniert. Wir wissen jedoch sehr genau, wie Computergedächtnisse – ihre Speicher – arbeiten. Deshalb werde ich den psychologischen Zeitpfeil anhand von Computern erläutern. Ich glaube, es ist vernünftig, davon auszugehen, daß sich der Pfeil für Computer nicht von dem für Menschen unterscheidet – sonst könnte man sein Glück an der Börse machen, indem man sich einen Computer zulegte, der sich an die Preise von morgen erinnern kann!
Im Prinzip enthält der Speicher eines Computers Bausteine, die nur zwei verschiedene Zustände annehmen können. Ein einfaches Beispiel ist ein Abakus. Im Grunde besteht er aus einer Reihe von Drähten. Auf jedem Draht befindet sich eine Anzahl von Kugeln, die jeweils in zwei verschiedene Positionen gerückt werden können. Bevor eine Einheit im Computergedächtnis gespeichert wird, befindet sich dieses in einem ungeordneten Zustand, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit für beide mögliche Zustände. (Die Kugeln des Abakus sind in Zufallspositionen über seine Drähte verteilt.) Sobald das Computergedächtnis in Wechselwirkung mit dem System tritt, das gespeichert, «erinnert» werden soll, ist es eindeutig in dem einen oder anderen Zustand, je nach dem Zustand des Systems. (Jede Abakuskugel befindet sich entweder auf der linken oder auf der rechten Seite des Drahtes.) Der Speicher ist also von einem ungeordneten in einen geordneten Zustand übergegangen. Doch um dafür zu sorgen, daß er sich im richtigen Zustand befindet, muß eine bestimmte Energiemenge aufgewendet – die Kugel bewegt, der Computer mit Elektrizität versorgt werden. Diese Energie wird in Wärme umgewandelt und erhöht das Maß an Unordnung im Universum. Es läßt sich nachweisen, daß diese Zunahme von Unordnung stets größer ist als die Zunahme von Ordnung im Speicher selbst. Die Wärme, die der Computer über sein Kühlgebläse abgibt, wenn er etwas in seinem Gedächtnis speichert, bedeutet also, daß das Gesamtmaß an Unordnung im Universum weiter ansteigt. Der Computer «erinnert» die Vergangenheit in derselben Zeitrichtung, in der die Unordnung zunimmt.
Folglich wird unser subjektives Empfinden für die Richtung der Zeit, der psychologische Zeitpfeil, im Gehirn vom thermodynamischen Zeitpfeil bestimmt. Wie ein Computer müssen wir uns an die Dinge in der Reihenfolge erinnern, in der die Entropie anwächst. Das macht den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik fast zu einer Trivialität. Die Unordnung wächst mit der Zeit, weil wir die Zeit in der Richtung messen, in der die Unordnung wächst. Darauf läßt sich getrost eine Wette wagen!
Doch warum muß es den thermodynamischen Zeitpfeil überhaupt geben? Anders gefragt: Warum muß sich das Universum an dem einen Ende der Zeit, dem Ende, das wir Vergangenheit nennen, in einem Zustand ausgeprägter Ordnung befinden? Warum ist es nicht ständig im Zustand völliger Unordnung? Das wäre doch wohl wahrscheinlicher. Und warum ist die Zeitrichtung, in der die Unordnung zunimmt, die gleiche, in der das Universum expandiert?
Aus der klassischen Theorie der allgemeinen Relativität läßt sich nicht ableiten, wie das Universum begonnen hat, weil alle bekannten Naturgesetze an der Urknall-Singularität ihre Gültigkeit verlieren. Das Universum könnte in einem sehr gleichmäßigen und geordneten Zustand begonnen haben. Dies hätte zu den eindeutig definierten thermodynamischen und kosmologischen
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