Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
verursachen könnte) würde dazu führen, daß sich die Erde in Spiralen auf die Sonne zu oder von ihr fortbewegte. Wir würden entweder erfrieren oder verbrennen. Dieses Verhalten der Gravitation bei wachsender Entfernung in mehr als drei Dimensionen hätte auch zur Folge, daß die Sonne keinen stabilen Gleichgewichtszustand zwischen Druck und Gravitation herstellen könnte. Sie würde entweder auseinanderfallen oder zu einem Schwarzen Loch zusammenstürzen. In beiden Fällen wäre sie als Wärme- und Lichtquelle für das Leben auf der Erde ohne großen Wert. Genauso wie die Gravitationskräfte verhielten sich im kleinräumigen Bereich die elektrischen Kräfte, die das Elektron veranlassen, um den Atomkern zu kreisen. Das Elektron würde sich also entweder gänzlich von dem Atom entfernen oder spiralförmig in den Kern wandern. In beiden Fällen hätten wir es nicht mehr mit Atomen zu tun, wie wir sie kennen.
Abb. 34: Ein zweidimensionales Tier mit einem Verdauungstrakt fiele auseinander.
Daraus scheint zu folgen, daß das Leben, zumindest in der uns bekannten Form, nur in Regionen der Raumzeit vorkommen kann, in denen drei Raum- und eine Zeitdimension nicht eng zusammengerollt sind. Dies würde bedeuten, daß man sich auf das schwache anthropische Prinzip berufen könnte, vorausgesetzt, man kann beweisen, daß die Stringtheorie solche Regionen des Universums zumindest zuläßt – und dies scheint der Fall zu sein. Es mag durchaus andere Regionen des Universums geben – oder andere Universen (was immer das bedeuten mag) –, in denen alle Dimensionen eng zusammengerollt oder in denen mehr als vier Dimensionen nahezu flach sind, doch in solchen Regionen gäbe es keine intelligenten Wesen, die die Auswirkungen anderszahliger Dimensionen beobachten könnten.
Ein weiteres Problem liegt darin, daß es mindestens vier Stringtheorien gibt (die der offenen Strings und drei verschiedene Theorien geschlossener Strings) sowie unzählige Arten, die von der Stringtheorie vorhergesagten zusätzlichen Dimensionen aufzurollen. Warum sollte man sich auf eine Stringtheorie und eine Form des Aufrollens beschränken? Eine Zeitlang wußte man keine Antwort darauf, und die Entwicklung stagnierte. Um 1994 begannen dann Wissenschaftler etwas zu entdecken, was Dualitäten genannt wird: verschiedene Stringtheorien und verschiedene Arten, die Dimensionen aufzurollen, könnten zu gleichen Ergebnissen in vier Dimensionen führen. Mehr noch – neben den Teilchen, die einen einzigen Punkt im Raum einnehmen, und den Strings, die Linien sind, stieß man jetzt auf die sogenannten p-Branen, die zwei oder mehr Dimensionen im Raum besitzen. (Ein Teilchen läßt sich als 0-Bran und ein String als 1-Bran verstehen, aber es gibt auch p-Branen mit p = 2 bis 9.) Offenbar herrscht eine Art Demokratie im Reich von Supergravitations-, String- und p-Bran-Theorie: Sie scheinen sich gut zu vertragen, ohne daß sich von einer sagen ließe, sie sei fundamentaler als die anderen. Es hat den Anschein, als seien sie unterschiedliche Annäherungen an eine fundamentale Theorie, die jeweils in verschiedenen Situationen gültig sind.
Nach dieser wahrhaft grundlegenden Theorie haben schon viele gesucht, bislang vergeblich. Und ich denke, daß es diese eine, allumfassende Formulierung der fundamentalen Theorie vielleicht gar nicht gibt, sowenig, wie sich, nach Gödels Erkenntnis, die Arithmetik durch ein einziges Axiomensystem ausdrücken läßt. Möglicherweise haben wir hier das gleiche Problem wie bei Landkarten: Die Oberfläche der Erde oder eines Torus läßt sich nicht durch eine einzige Karte beschreiben. Um jeden Punkt zu erfassen, braucht man für die Erde mindestens zwei und für den Torus vier Karten. Jede Karte ist nur für eine begrenzte Region gültig, aber verschiedene Karten überschneiden sich in bestimmten Regionen. Eine solche Zusammenstellung von Karten liefert eine vollständige Beschreibung der Oberfläche. Entsprechend müssen vielleicht in der Physik verschiedene Formulierungen in verschiedenen Situationen verwendet werden, wobei zwei verschiedene Formulierungen in Situationen, in denen sie sich beide verwenden lassen, übereinstimmen würden. Die gesamte Palette verschiedener Formulierungen wäre dann als vollständige vereinheitlichte Theorie zu betrachten, auch wenn sie sich nicht durch ein einziges System von Postulaten ausdrücken ließe.
Doch kann es überhaupt eine solche vereinheitlichte Theorie geben? Oder jagen wir
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