Eine kurze Weltgeschichte fuer junge Leser
Nacht
schlafend im Postwagen, in irrsinniger Hetzjagd unter den abenteuerlichsten
Gefahren durch Feindesland, in 16 Tagen von der türkischen Grenze bis nach
Stralsund in Norddeutschland, das damals zu Schweden gehörte. Der Kommandant
der Festung, den er in der Nacht wecken ließ, traute seinen Augen kaum, als da
plötzlich sein König vor ihm stand, den man weiß Gott wo in der Türkei geglaubt
hatte. Die Stadt war begeistert von diesem Husarenstück, Karl XII. aber legte
sich ins Bett und schlief und schlief. Seine Füße waren von dem langen Ritt so
angeschwollen, dass man ihm die Schuhe herunterschneiden musste. Aber niemand
dachte mehr daran, einen anderen König zu wählen. Da begann Karl XII., kaum
dass er in Schweden war, schon wieder ein neues Kriegsabenteuer. Er machte sich
England, Deutschland, Norwegen und Dänemark zu Feinden. Zuerst wollte er
Dänemark bekämpfen. Während der Belagerung einer dänischen Festung ist er im
Jahre 1718 gefallen, und manche Leute sagen, einer seiner eigenen Untertanen
habe ihn erschossen, weil das Land all die Kriege einfach nicht mehr ertragen
wollte.
Aber so war Peter der Große diesen Gegner los, und die Macht seines
russischen Reiches, zu dessen Kaiser oder Zaren er sich ernannt hatte, wuchs in
alle Richtungen, gegen Europa und gegen die Türkei, gegen Persien und die
asiatischen Länder.
Die wirklich neue Zeit
Wenn du mit einem Menschen aus der Zeit der
Türkenbelagerung reden könntest, würdest du dich sehr über ihn wundern. Über
seine Art zu sprechen, über die vielen französischen und lateinischen Wörter,
die er gebrauchen würde, über die gedrechselte und gewundene Manier und
Umständlichkeit seiner Erklärungen, über die Art, wie er sich gravitätisch
verbeugen würde und wie er bei jeder Gelegenheit ein lateinisches Zitat
einflechten würde, von dem weder du noch ich wüssten, wo es herstammt. Dabei
hättest du wahrscheinlich das Gefühl, dass unter dieser würdigen
Perücke ein Kopf steckt, der gern an gutes Essen und Trinken denkt, und dass
der ganze Herr in Spitzen, Stickerei und Seide unter seinem Parfüm – mit
Verlaub zu sagen – stinkt, weil er sich fast nie wäscht.
Aber wie würdest du erst staunen, wenn er anfinge, seine Ansichten
auszubreiten: dass man Kinder prügeln soll; dass junge Mädchen fast noch als
Kinder an Männer verheiratet werden sollen, die sie gar nicht kennen; dass der
Bauer nur zum Arbeiten auf der Welt ist und sich nicht mucksen darf; dass man
Bettler und Landstreicher öffentlich auspeitschen soll und dann am Marktplatz
anketten und verspotten; dass Diebe aufgehängt und Mörder öffentlich in Stücke
gehackt zu werden haben; dass man Hexen und andere schädliche Zauberer, die ihr
gefährliches Unwesen so häufig treiben, verbrennen muss und Andersgläubige
verfolgen, verjagen oder in ein finsteres Gefängnisloch werfen; dass der Komet,
den man neulich am Himmel sah, böse Zeiten bedeutet und dass es gegen die nächste
Seuche, die schon in Venedig viele Opfer gekostet hat, sehr gut sein soll, eine
rote Armbinde zu tragen, dass der Herr Soundso, ein englischer Freund, seit
Langem großartige Geschäfte damit macht, Menschen aus Afrika als Sklaven nach
Amerika zu verkaufen, und was für ein guter Einfall des sehr ehrenwerten Herrn
das sei, da die gefangenen Indianer nicht zur Arbeit taugen.
Und solche Ansichten würdest du nicht vielleicht von irgendeinem
Rohling hören, sondern auch von den gescheitesten und auch frömmsten Menschen
aller Stände und Nationen. Erst nach 1700 wird es allmählich anders. Das viele
und grässliche Elend, das die traurigen Glaubenskämpfe über Europa brachten,
hat manchen Leuten zu denken gegeben: Kommt es denn wirklich nur darauf an,
welche Artikel im Katechismus einer für wahr hält? Ist es nicht wichtiger, dass
er ein guter, anständiger Mensch ist? Wäre es nicht besser, wenn die Menschen
sich vertrügen, auch solche, die verschiedene Meinungen und verschiedenen
Glauben haben? Wenn sie sich gegenseitig achteten und die Überzeugungen anderer
duldeten? Das war der erste und wichtigste Gedanke, der da nun ausgesprochen
wurde: der Gedanke der Duldung. Meinungsverschiedenheiten, so meinten die Menschen,
die so sprachen, kann es doch nur in Glaubenssachen geben. Dass 2 x 2 = 4 ist,
darüber sind sich alle vernünftigen Menschen einig. Und darum ist die Vernunft
(der gesunde Menschenverstand, wie man auch sagte) das, was alle Menschen
verbinden könnte und sollte. Im Reich der Vernunft
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