Eine Lady nach Maß
Sie hatte am Morgen ihre Bibel dort liegen lassen. Nun kam sie ihr wie ein Leuchtfeuer in einem schweren Sturm vor. Wie sehr brauchte sie jetzt Gottes Führung! Sie nahm das in Leder gebundene Buch und presste es an die Brust, während sie Gott darum bat, ihr den Boden unter den Füßen wiederzugeben.
„Wollen Sie ein Stolperstein im Leben anderer sein?“ Jerichos Abschiedsworte hallten in ihr nach und erdrückten fast ihr Herz.
War es das, was sie war?
Sie konnte nicht leugnen, dass die meisten ihrer reichen Kundinnen in San Antonio eitel und egoistisch gewesen waren. Manche hatten Mode als Möglichkeit gesehen, um sich von den unteren Gesellschaftsschichten abzusetzen. Andere hatten beeindrucken wollen. Die meisten hatten während der Anproben an niemandem außer sich selbst ein gutes Haar gelassen.
Doch es hatte auch Ausnahmen gegeben. Frauen wie Victoria Ashmont, die Farben und Schnitte dazu genutzt hatten, um ihre Persönlichkeit auszudrücken. Oder die jungen, schüchternen Töchter der gehobenen Gesellschaft, die immer Angst gehabt hatten, ihre Familien zu beschämen, bis sie sich in einem neuen Kleid im Spiegel gesehen und daraus neues Selbstvertrauen geschöpft hatten. Das war alles andere als Selbstsucht gewesen.
„Herr, ich bin so verwirrt.“
Seit vielen Jahren war sie davon ausgegangen, dass sie Gott ehrte, indem sie das von ihm erhaltene Talent nutzte. Hatte sie sich selbst betrogen? War sie für andere ein Stolperstein?
Mehr auf der Suche nach Trost als nach Antworten schlug sie in der Bibel die Apostelgeschichte auf. Sie musste noch einmal die Geschichten der Frauen nachlesen, die die Gemeinden unterstützt hatten, indem sie ihnen Kleidung genäht hatten.
Sie las von Dorkas, einer von der Gemeinde geliebten Frau, die für die Bedürftigen genäht hatte. Vielleicht wollte Gott von ihr, dass auch sie für die nähte, die bedürftig waren und ihre Dienste nicht bezahlen konnten. Dann wäre ihre Arbeit ein wirklicher Dienst, ein Geschenk.
Aber wie sollte sie sich das leisten? Sie hätte ihre Ersparnisse aufgebraucht, bevor der Winter einbrechen würde, und könnte sich dann weder um sich selbst noch um andere kümmern.
Hannah blätterte weiter, wobei das dünne Papier in der Stille des Raumes raschelte. Mit dem Finger fuhr sie über die Seiten, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.
Lydia. Was war mit ihrem Beispiel? Sie war eine erfolgreiche Geschäftsfrau gewesen und trotzdem Gott treu ergeben. Sie verkaufte Purpurstoffe, die besten und teuersten Stoffe der damaligen Zeit. Ihre Kunden waren die Reichen und Einflussreichen der damaligen Zeit gewesen. Und trotzdem hatte niemand sie für ihren Beruf verurteilt. Im Gegenteil, ihre Arbeit hatte es ihr erlaubt, ein Haus zu unterhalten, in dem sich die neue Gemeinde von Philippi treffen konnte. Und womöglich hatten ihre Spenden einen Großteil des Geldes ausgemacht, das die Gemeinde Paulus später für seine Missionsreisen zukommen ließ.
Diese Bestätigung ihrer Arbeit floss wie Salbe über Hannahs wundes Herz. Sie hatte recht gehabt. Ihr Geschäft war für die Menschen von Coventry Unterstützung und bestimmt kein Ort der Versuchung. Jericho Tucker war einfach ein verbitterter Mann, der die Schmerzen seiner Kindheit nicht verarbeitet hatte und jetzt sein ganzes Leben davon bestimmen ließ.
Aber warum ließ der Gedanke an diesen Mann ihr keine Ruhe. Warum konnte sie seinen Zorn nicht einfach vergessen und ihn ignorieren?
Hannah wusste, wie es war, den Vater zu verlieren, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es sein musste, wenn man als Kind von seiner Mutter für ein anderes Leben verlassen wurde. Jerichos Mutter hatte den Reichtum gewählt und ihre Familie im Stich gelassen. Für ihn verkörperten schöne Kleider all das, was seine Familie zerstört hatte. Kein Wunder, dass er mit ihrem Geschäft nicht einverstanden war.
Aber hatte er völlig unrecht? Sie setzte sich aufrecht hin. Es wäre ein Leichtes, seine Argumentation als verbittert und falsch abzutun und seine Meinung zu überhören, trotzdem steckte ein wenig Wahrheit in seinen Worten.
Ausgewogenheit. Sie brauchte Ausgewogenheit. Vielleicht wollte Gott, dass sie sowohl wie Dorkas als auch wie Lydia war. Wie Lydia konnte sie ein erfolgreiches Unternehmen führen, während sie sich zur gleichen Zeit um die Bedürftigen kümmerte, wie Dorkas es getan hatte. Und jetzt, da sie sich bewusst war, dass sie auf keinen Fall ein Stolperstein für andere sein wollte,
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