Eine Lady nach Maß
seine Schritte klangen laut in dem stillen Raum.
Hannah Richards stand hoch aufgerichtet da und hob ihr Kinn mit jedem Schritt, den er näher kam. „Sie haben eine armselige Meinung von Frauen, Sir, wenn Sie denken, dass wir den Unterschied nicht erkennen können.“
„Meine Mutter konnte es nicht.“ Die Worte entschlüpften ihm, bevor er sie unterdrücken konnte.
„Wie bitte?“
Eine Welle von Ärger, Groll und Schmerz durchflutete ihn so unvermutet, dass er auch die nächsten Worte nicht mehr kontrollieren konnte. „Meine Mutter sehnte sich ganz harmlos nach den Freuden neuer Kleider, hübscher Hauben und teuren Schmucks. Es ging so weit, dass sie ihren Ehemann und ihre beiden Kinder verlassen hat, um die Geliebte eines reichen Mannes zu werden. Delia war erst vier Jahre alt. Vier! Fast noch ein Baby. Und unsere Mutter hat sie mit einem gebrochenen Mann und einem elfjährigen Jungen allein gelassen.“
Miss Richards Augen wurden groß und ihre Stirn legte sich in Falten, doch er wollte ihr Mitleid nicht. Er wollte, dass sie die Wahrheit darüber verstand, wofür ihr Geschäft in Wirklichkeit stand.
„Sie mögen glauben, dass es nicht schlimm ist, den Frauen von Coventry ein neues Verständnis für Mode und Schönheit zu geben. Für ein paar wenige Bewohnerinnen mag das auch zutreffen. Aber für die Mehrheit ist Ihr Angebot eine Versuchung. Sie werden sich nach Dingen sehnen, die sie sich nicht leisten können. Sie werden die beneiden, die es sich leisten können. Und sie werden unzufrieden mit ihrer momentanen Lebenssituation werden.“
Sie öffnete ihren Mund – um ihm zu widersprechen, daran hatte er keinen Zweifel, aber er hatte nicht die Nerven, ihr noch länger zuzuhören. Deshalb schüttelte er den Kopf und starrte sie mit einem Blick an, der sie den Mund wieder schließen ließ.
„Ich weiß, dass die wenigsten Frauen ihre Familien im Stich lassen würden, wie meine Mutter es getan hat, aber Unzufriedenheit und Selbstsucht können sich trotzdem wie Gift ausbreiten und großen Schaden anrichten. Der Herr mag Schönheit gutheißen, aber er kümmert sich mehr um das Herz eines Menschen als um die Hülle, die dieses Herz umgibt.“ Er holte tief Luft. „Sie haben gesagt, ich soll ehrlich mit mir selbst sein, und jetzt verlange ich das Gleiche von Ihnen. Wie viele der Kundinnen, für die Sie gearbeitet haben, haben Ihre Kleider gekauft, um nur die Farben und den Schnitt zu bewundern? Und wie viele, um ihre Eitelkeit und Selbstsucht zu befriedigen?“
Unsicherheit machte sich auf ihrem Gesicht breit und ihr vorher noch fester Blick kam ins Wanken. Er schnappte sich einen neuen Zahnstocher und steckte ihn sich in den Mund, während er sich umdrehte und in Richtung Tür ging. „Vielleicht ist es bei Cordelia anders, aber die meisten Frauen, die Ihren Laden betreten, werden der Versuchung nicht widerstehen können. Wollen Sie wirklich dafür verantwortlich sein, Ihnen das Leben schwer zu machen? Wollen Sie ein Stolperstein im Leben anderer sein?“
Seine Finger schlossen sich um den Türknauf, als er noch einen letzten Blick zurückwarf. Traurige Augen in einem blassen Gesicht blickten ihm nach und ließen sein Herz sinken. J.T. schlug die Tür hinter sich zu und stapfte davon. Auf dem Weg zum Stall versuchte er sich selbst davon zu überzeugen, dass es nötig gewesen war, sie zu verletzen. Dadurch würde sie stärker werden und hoffentlich zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Aber als er sein Büro betrat, verfolgte ihn ihr verwundeter Blick immer noch.
Er ignorierte Toms Geplapper, sattelte sein bestes Pferd und stieg wortlos auf. Als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, spornte er sein Pferd zum Galopp an und presste sich an den Körper des Tieres. Trotzdem konnte er den Gedanken an Hannahs letzten Blick nicht vergessen. Ein bleiernes Gefühl legte sich auf seinen Magen, das ihm alle Freude zu rauben schien.
Kapitel 15
H annah war froh, dass das „Geschlossen“-Schild bereits im Fenster hing. Mit zitternden Fingern räumte sie ihre Nähmaschine auf und befestigte die Bänder ihrer Haube. Sie verließ das Geschäft, schloss hinter sich ab und stieg erschöpft die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf.
Dass möglicherweise genau jetzt erwartungsvolle Kunden kommen und ihr Geschäft verschlossen vorfinden könnten, war ihr im Moment völlig egal. Als sie oben angekommen war – nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien – riss sie sich die Haube vom Kopf und brach auf der Bank am Fenster zusammen.
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