Eine Lady zu gewinnen ...
Virginia Poppys Arbeitszimmer betrat, saß er am Schreibtisch und hatte zu ihrer Überraschung den Kopf in den Händen vergraben.
Er sah erschöpft aus, und als er den Kopf hob, um sie anzusehen, waren seine Augen glanzlos.
»Mach die Tür zu und setz dich, Lämmchen.«
Der sanfte Tonfall seiner Stimme versetzte sie sofort in Alarmbereitschaft. Sie folgte seiner Aufforderung, doch er sagte zunächst nichts. Er starrte einfach an ihr vorbei, als ob er in ihrem Rücken einen Geist sähe.
»Poppy?«
Endlich wandte er ihr seinen Blick zu und straffte sich. »Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich nicht vermeiden lässt. Du hattest recht gestern. So schwer es mir auch fällt, ich kann keine Geheimnisse vor dir haben, wenn dieser Schuft Sharpe sich in dein Herz einschleicht.«
Sie schluckte hart. »Was für Geheimnisse?«
»Du hast mich gefragt, woher ich weiß, was in jener Nacht passiert ist. Nun, ich werde es dir sagen.« Mit einem gequälten Gesichtsausdruck holte er tief Luft. »Dein Bruder ist nach Hause gekommen und hat es mir erzählt, bevor er weggegangen ist, um gegen Sharpe anzutreten.«
Sie war wie betäubt. »Du wusstest, dass Roger zu einem Rennen antreten wollte, und hast nicht einmal versucht, ihn zurückzuhalten?«
»Nein.« Er nahm einen Brieföffner und drehte ihn immer wieder in den Händen hin und her. »Er erzählte mir keine Einzelheiten. Er kam herein und sagte: ›Wenn ein Gentleman in betrunkenem Zustand eine Wette annimmt, gibt es dann irgendeine ehrenvolle Art für ihn, von der Wette zurückzutreten? Oder muss er sie in jedem Fall einhalten?‹
Ich dachte an eine Wette beim Kartenspiel, und dass er vielleicht mit höherem Einsatz gespielt hatte, als er es sich leisten konnte. Und ich wollte nicht, dass der Junge denkt, er kann eine Wette eingehen und dann einen Rückzieher machen, bloß weil er betrunken war. Das wäre unehrlich und ehrlos gewesen.«
Der Schmerz grub tiefe Linien in sein wettergegerbtes Gesicht.
»Also sagte ich ihm, dass nur ein Lump von einer Wette zurücktrete. Dass er nicht betrunken spielen solle und dass es das einzig Richtige sei, seine Schulden zu begleichen.«
Oh Poppy. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie konnte sich gut vorstellen, welche Wirkung diese Worte aus dem Mund des großen Kavalleriegenerals auf Roger gehabt hatten. Ihr Bruder hatte ihren Großvater, den legendären Kriegshelden, immer beeindrucken wollen und war ohnehin wütend und enttäuscht, dass ihm das durch seine Eskapaden mit dem Sohn eines Marquess und dem Sohn eines Herzogs nicht gelang. Er hatte Poppys Rat einfach befolgt, ohne ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Warum einen weiteren Streit riskieren?
Und es hatte oft Streit gegeben zwischen Roger und Poppy. Wegen Rogers Trinkgewohnheiten, seiner Spielleidenschaft und wegen all der Nächte, die er sich in irgendwelchen Spelunken um die Ohren schlug.
Wie konnte sie diese Seite von Roger so komplett vergessen haben? Sie hatte immer nur an den Bruder gedacht, den sie so schrecklich vermisste, und hatte ihn zu einem Heiligen stilisiert. Aber er war nie ein Heiliger gewesen. Er war bloß ein Waisenkind gewesen, das seinen Platz in der Welt gesucht hatte, und er hatte geglaubt, eine Enttäuschung für seinen Großvater zu sein.
Poppy blickte sie an. »Ich schwöre, ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass es um ein idiotisches Rennen ging, bei dem er sein Leben riskieren würde. Sonst hätte ich niemals …«
»Schon gut, Poppy«, sagte sie sanft. »Du konntest es nicht wissen.«
All die Jahre hatte er diese Schuld mit sich herumgetragen. Er braucht einen Schuldigen, und dieser Schuldige bin ich. Das heißt aber nicht, dass ich schuldig bin, hatte Gabriel gesagt.
Er hatte recht gehabt.
»Aber ich hätte ihn fragen müssen«, sagte Poppy. »Ich hätte darauf bestehen müssen, dass er mir sagt, worum es bei der Wette ging.« Seine Hände krampften sich um den Brieföffner. »Stattdessen fragte ich ihn, wie viel er schuldig sei und wem.« Seine Stimme nahm einen harten Klang an. »Das war alles, woran ich dachte – das Geld. Als er sagte, dass es keine große Summe sei und ich mir keine Sorgen deswegen machen solle, ließ ich es auf sich beruhen. Um ehrlich zu sein: Ich war erleichtert. Ich dachte, es wäre ein Zeichen, dass er endlich anfing, die Verantwortung für seine Fehler zu übernehmen.« Er seufzte tief. »Warum habe ich nicht nachgefragt? Wenn er gesagt hätte, dass es um
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