Eine lange dunkle Nacht
anklopfen«, sagte Free und schob den Schlüssel ins Schloß. Metall kratzte Metall, und das Tor öffnete sich mit einem protestierenden Knarren. Als sie gerade hineingehen wollten, blickte Teresa über ihre Schulter zurück und sah, daß Poppy es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte, so, als würde die seltsame junge Frau nun doch ein kurzes Nickerchen halten.
Kurzes?
Teresa hatte keine Ahnung, wie lange sie hier bleiben würden. Sie sah auf die Uhr. Vier Uhr morgens. Gott, würde diese Nacht denn nie enden?
Hinter dem Tor lag ein breiter Gang; an den Steinwänden hingen Fackeln, deren flackerndes Licht unheimliche Schatten warfen. Die Luft war klamm, und aus dem Gemäuer drang Feuchtigkeit. Verfolgt vom Echo ihrer Schritte, gingen sie den Gang entlang und gelangten in einen riesigen Saal, in dem das Fackellicht von tiefer Dunkelheit verschluckt wurde. Teresa legte ihre schmerzende linke Hand auf Frees Arm und flüsterte ihm die Worte zu, die ihr auf der Zunge gelegen hatten, seitdem sie von der Hauptstraße abgebogen waren.
»Was tun wir hier eigentlich?« fragte sie.
»Sagte ich doch, meine Mutter besuchen«, erwiderte er.
»Wohnt deine Mutter wirklich in dieser Gruft?«
»Du magst die Einrichtung nicht?«
»Sie macht mir Angst.«
Free nickte. »Gerade darum geht's, glaube ich. Wie auch immer, ich nenne sie nur Mutter. Wir stehen einander sehr nahe. Meine richtige Mutter ist vor langer Zeit gestorben.«
»Wie hast du diese Frau kennengelernt?« fragte sie.
»Sie hat mir mein Schicksal vorausgesagt.« Free nahm ihren linken Arm und führte sie in die von ihm gewünschte Richtung, nach rechts. »Sie sitzt am liebsten in ihrem kleinen Zimmer, wenn sie wahrsagt.«
»Weiß sie, daß wir kommen?« fragte Teresa.
»Ja.«
»Woher?«
»Sie ist Wahrsagerin. Sie sieht jeden Morgen in ihre Zukunft und weiß, wer sie besuchen wird.« Free grinste. »Besser als ein Terminkalender.«
Die Frau saß in einem Raum, der anscheinend eine Bibliothek war. Die Wände waren mit Büchern vollgestellt, dunkle, verstaubte Bücher mit verblaßten, kaum zu entziffernden Titeln. Zwischen den Regalen hingen Landkarten mit Orten, die Teresa nicht kannte, und mit Kontinenten, die auf keinem Globus zu finden waren. In den vier Ecken des Raumes flackerten lange Kerzen. Die Frau sah zu ihnen hoch und lächelte mit schmalen roten Lippen.
Ihre Haare waren schneeweiß und fast genauso lang wie ihr purpurfarbenes Kleid, das sich wallend um ihren Körper schmiegte. Ihr Blick war stechend, ihre Augen blau und hart wie Korallenstücke aus den tiefsten Tiefen des Meeres. Sie war alt, sehr alt; der Lauf der Zeit hatte tiefe Falten in ihr Gesicht gegraben. Dennoch war sie keine verkalkte Greisin. Mit gekrümmtem Finger bedeutete sie ihnen näher zu kommen und gebot ihnen lächelnd, auf den zwei kleinen Holzstühlen vor ihr Platz zu nehmen.
»Willkommen«, sagte sie mit kehliger Stimme. Sie saß an einem runden Holztisch, der bedeckt war mit einer Sternenkarte, zerknüllten Papierbögen, zwei Tintenfedern und einer silbernen, pampelmusengroßen Pyramide. Teresa rang sich ein Lächeln ab, obwohl sie am liebsten aufgestanden und zur Tür hinausgerannt wäre. Diese Person, diese Hexe, würde ihr nichts sagen, das sie gerne hören würde.
»Hallo«, sagte Teresa.
»Hi, Mutter«, sagte Free beiläufig und stellte seine Tasche vor sich auf dem Steinfußboden ab.
»Wie heißt du, Kind?« fragte die Frau.
Teresa zögerte. »Teresa.«
»Deinen ganzen Namen«, insistierte die Frau.
»Teresa Marie Chafey.«
»Zu welcher Zeit wurdest du geboren? Welcher Tag?«
»Ich wurde an einem Samstag um genau zehn Uhr morgens geboren«, sagte Teresa. »Am zwölften November. Ich bin achtzehn Jahre alt, wurde also neunzehnhundert-«
»Das Jahr brauche ich nicht«, unterbrach die Frau sie. Sie wandte sich ihrer Sternenkarte zu. »Das Jahr ist immer dasselbe. Es ändert sich nicht mit Sonne oder Mond.«
»Wie?« entfuhr es Teresa.
»Mutter betreibt nicht die gängige Astrologie«, flüsterte Free ihr ins Ohr.
Sie warteten schweigend, während die Frau ihre Berechnungen durchführte. Bald hatte sie den vor ihr liegenden orangefarbenen Zettel mit Zahlen, astrologischen Zeichen und seltsamen Symbolen vollgekritzelt, die Teresa nie zuvor gesehen hatte. Ihr kam ein komischer Gedanke – komisch den Umständen entsprechend.
Ich frage mich, wieviel die Frau dafür von mir verlangt.
»Du hattest ein schweres Leben, Kind«, begann die Alte nach einem
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