Eine lange dunkle Nacht
letzten Blick auf ihren Zettel. »Deine Eltern haben dich immer vernachlässigt, und sie bedeuten dir nicht viel. Die meiste Zeit deines Lebens bist du allein gewesen, selbst wenn du von Menschen umgeben warst. Du glaubst, du seist anders als die anderen, und du hast recht. Du gehörst nicht in die Masse der Menschen, denn diese Menschen wissen deine Einzigartigkeit nicht zu schätzen. Du bist sehr begabt, kannst Poesie und Prosa schreiben, Instrumente spielen und singen wie eine Göttin. Dir mögen diese drei Fähigkeiten wie verschiedene Talente vorkommen, doch sie sind ein und dasselbe. Du berührst die Herzen der Menschen, das ist deine Gabe. Aber du selbst hast Schwierigkeiten damit, jemanden an dich heranzulassen. Du hast Mauern erbaut, um dich von der Welt abzuschließen, und im Gegenzug hat die Welt Mauern gebaut, um dich von ihr auszuschließen. Dies ist dein großes Dilemma. Jedesmal, wenn du aus deinem Schneckenhaus ausbrichst und zeigen willst, wieviel Liebe in dir steckt, wirst du mit Undank belohnt. Habe ich nicht recht, Teresa Chafey?«
»Ja«, flüsterte Teresa. Sie hatte gezittert, als sie das Schloß betreten hatte, jetzt erstarrte sie. Die Stimme der alten Frau war kalt, ihre Worte schnitten tief in Teresas Seele. Nur Wahrheiten konnten dies vollbringen.
Wie kann sie soviel über mich wissen? Ich habe diese Frau noch nie zuvor gesehen.
Ein Mysterium. Dieses Schloß war ein Mysterium. Diese Frau war ein Mysterium. In ihren harten blauen Augen loderten die Flammen des Fegefeuers. Sie wartete darauf, daß Teresa ihr eine Frage stellte, sie auf die Probe stellte. Zweifellos würde die Frau diese Probe bestehen. Das war, was Teresa am meisten ängstigte – sie saß gewissermaßen vor einer lebendigen Kristallkugel. Genau das war die Frau, eine lebende Kristallkugel, in der sich das Schicksal der Person widerspiegelte, die gerade vor ihr saß.
Teresa wollte nichts über ihre Zukunft wissen, noch nicht. Zuerst wollte sie besser verstehen, weshalb das Vergangene endete, wie es endete.
»Wieso wollte mein Freund lieber Rene als mich?« fragte sie.
»Weil du ihm Angst gemacht hast«, sagte die Frau. »Er wußte nicht, was du als nächstes tun würdest.«
Teresa kicherte unbehaglich. »Bill hat vor mir keine Angst gehabt.«
»Nicht vor dir, aber vor dem, was du tun würdest. Das ist nicht dasselbe, Kind. Oft haben diese Dinge nichts miteinander gemein.«
»Gab es noch einen Grund?« fragte Teresa.
»Der Grund, den ich dir genannt habe, reicht völlig aus. Aber wenn du unbedingt noch einen hören mußt, würde ich sagen, daß Rene und Bill auf eine Weise zusammensein wollten, die ihnen mit dir nicht möglich war. Weil« – die Frau verstummte und kratzte sich mit einem langen goldenen Fingernagel am Kinn –, »weil sie dich nicht verstehen konnten. Menschen haben immer Angst vor dem, was sie nicht verstehen.«
»Sie sprechen wieder von Angst«, sagte Teresa.
»Du sprichst wieder von Angst. Ich sage bloß, was ich sehe. Wovor hast du Angst, Kind?«
Plötzlich empfand Teresa Widerwillen. Es war nicht angenehm, sich in die Seele blicken zu lassen – obwohl sie gefragt hatte. Tatsächlich? Sie hatte nicht darum gebeten, sich ihre Zukunft voraussagen zu lassen. Free hatte sie schlichtweg überrumpelt.
»Sagen Sie es mir«, meinte Teresa.
»Du hast Angst vor dem Alleinsein.« Sie blickte auf ihren Zettel. »Aber du kannst wahre Liebe bekommen, wenn dir egal ist, wieviel sie dich kostet. Du kannst sie heute nacht haben, sofort, hier an diesem Ort. Aber du willst keine Liebe. Du willst Bewunderung, und das ist schäbig. Wieviel willst du heute nacht ausgeben, Teresa?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, stotterte Teresa.
Die Frau beugte sich zu ihr vor, doch ihre harten blauen Augen folgten nicht der Bewegung des Kopfes, sondern schienen einen Moment lang losgelöst in der Luft zu schweben, bevor sie dem Schädel folgten und wieder in die Augenhöhlen eintraten. Sie starrten jetzt aus unmöglichem Winkel auf Teresa, und diesem unheimlichen Blick haftete nichts Menschliches mehr an. Als sie die Alte zum ersten Mal gesehen hatte, hatte Teresa sie im Geiste mit einer Hexe verglichen. Nun hielt sie den Vergleich für absolut treffend. Diese Frau jagte ihr höllische Angst ein.
Die Hexe verzog ihre schmalen roten Lippen ein weiteres Mal zu dieser grotesken dünnen Linie, die ein Lächeln darstellen sollte.
»Wieso hast du mich nicht gefragt, weshalb Bill nicht mit dir schlafen wollte?« fragte
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