Eine Leiche zu Ferragosto
nächtliches Bad. Sie sah sich an Frühlingsnachmittagen, wie sie für ihr Examen lernte, das damals so wichtig erschien, oder wie sie mit den Freundinnen an sorglosen Wochenenden zusammensaß, als man nur wegen Liebeskummer oder einer vermasselten Prüfung weinte. Sie sah sich mit ihrer ersten großen Liebe, sah den heimlichen gemeinsamen Urlaub, über den ihre Mutter und ihre Großmutter bestens Bescheid wussten. Sie sah sich mit ihrer zweiten großen Liebe und mit der dritten, der vierten und der fünften, bis sie aufgehört hatte zu zählen.
Sie hatte das Gefühl, alles noch einmal zu durchleben, dieses Leben, das so eilig an ihr vorbeigezogen war, ohne dass sie jemals daran gedacht hätte, es festzuhalten. Alles war so schnell gegangen, mühelos und ohne Plan, so einfach, leicht, nett, und nun, wo sie eigentlich satt sein müsste, merkte sie, dass sie die Speisen des Festmahls gar nicht richtig ausgekostet hatte.
Aber es lag nicht in ihrer Absicht, so zu enden wie viele aus ihrem Bekanntenkreis, pathetische Imitate der Jugend, mit operierten Nasen und Brüsten, das Gesicht geliftet, die Haare goldblond gefärbt und einen jungen Mann an der Seite. Nein, Regina fürchtete in höchstem Maße die Lächerlichkeit. Ihr genügten die Erinnerungen, und hierher, an diesen Ort, der ihr mehr als alles andere Heimat war, kehrten sie ganz leicht zurück, mit bunten, detailreichen Bildern, aber auch mit Gerüchen, Geschmäckern, Geräuschen und Gefühlen, all dem, was zusammengenommen das Kaleidoskop ihres Lebens bildete. Die Augenfarbe eines Mannes nach einer Liebesnacht vor vielen Jahren; Duft und Geschmack einer Süßspeise aus ihrer Kindheit, die nur ihr Kindermädchen zubereiten konnte und deren Rezept mit ihm verlorengegangen war; die Stimme ihrer Mutter;das Gefühl von feuchtem Sand zwischen den Zehen in ihrer einzigen, zu früh geendeten Schwangerschaft. Abertausende Bruchstücke, jeden Abend neue. Sie brauchte nichts zu tun, als sie zuzulassen, in einer Art hypnotischer Trance, aus der sie manchmal erst Stunden später erwachte, um dann mit der merkwürdigen Gewissheit schlafen zu gehen, dass ihr Leben sich so Stückchen für Stückchen zu einem Gesamtbild zusammensetzte, das sie am Ende des Ganzen verstehen würde.
Sie hatte sich immer vorgestellt, hier zu sterben, in einer Sommernacht mit Blick auf das Meer, im schmerzlosen Übergang aus den Erinnerungen in den ewigen Traum.
Doch so sollte es nicht sein.
Sie hatte noch wenige Nächte, und danach den Rest eines sinnlosen und faden Lebens.
Verfluchte Elena. Sie war an allem schuld.
Sie hätte es verdient, nicht einen Tod zu sterben, sondern eintausend, zweitausend Tode.
Draußen ist die Beschaffenheit des Dunkels anders als drinnen. Innerhalb von vier Wänden mag die Dunkelheit zwar bedrückend und furchterregend sein, doch du weißt immer, wenn du dich nur weit genug vortastest, gelangst du an eine Wand, wo du dich anlehnen kannst. Es ist eine dichte Dunkelheit voll mit Hindernissen, aber auch mit Dingen, an denen man sich festhalten und orientieren kann.
Draußen hingegen war die Dunkelheit flüssig, von einem absoluten Schwarz, wie ein Meer aus Finsternis, in dem er weder oben noch unten noch irgendetwas zu den Seiten unterscheiden konnte. War es besser, stehen zu bleiben oder beim Warten auf und ab zu gehen? Er war pünktlich gekommen, denn er wollte keine Überraschungen erleben und den Pfad, der herabführte, im Blick behalten, doch nun kam ihm die Idee nicht mehr so grandios vor, genauso wenig wie der Ort, den er ausgesucht hatte. Es war kalt, vom Meer stieg die Feuchtigkeit auf, und er hatte nicht einmal ein Handtuch. Genialer Einfall, von Pioppica herüberzuschwimmen und auf das Überraschungsmomentzu setzen, doch nun, während das Wasser auf seiner Haut gefror, war er versucht, wieder hineinzuspringen und dahin zurückzuschwimmen, woher er gekommen war.
Er dachte eine Minute zu lange nach, den Blick starr auf das leicht schwappende Meer gerichtet.
Der erste Schlag zertrümmerte ihm die rechte Schläfe. Er war schon tot, bevor er zu Boden fiel.
Mittwoch, 15. August
Pippo Mazzoleni wirkte krank, aber irgendwie auch abgeklärt und entschlossen, so als habe er einen wichtigen Schritt getan. Santomauro war zu ihm gefahren, um ihm mitzuteilen, dass der Leichnam seiner Frau nun für die Beisetzung freigegeben war. Das hatte er als seine persönliche Pflicht betrachtet, auch um zu sehen, ob der Witwer allein zurechtkam, doch dann hatte er
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