Eine Liebe in Paris
zurück in die Tasche wischte.
»Stefan Zweig.«
»Wer?«
»Na, du weißt doch, der Typ, von dem wir die
Schachnovelle
in der Schule gelesen haben.«
»Ach, der.« Mir hatte das Buch gefallen, und ich erinnerte mich, dass der Kerl in dem Roman am Ende durchgedreht war.
»Gehen wir? Hast du alles?«, fragte meine Mutter und öffnete bereits die Fahrertür.
»Ja.«
Mogens sah auf seine schwarze Swatch. »Lasst uns nach dem Einchecken doch noch einen Kaffee zusammen trinken. Die Zeit haben wir.«
»Gute Idee«, antworteten meine Mutter und ich gleichzeitig und lachten dann. Sie legte mir den Arm um die Schulter und ich schmiegte mich kurz an sie. Mogens hatte wie so häufig das Richtige gesagt, dachte ich. Mit seiner ruhigenund gelassenen Art gelang es ihm immer wieder, die Spannung aus manchen Gesprächen zu nehmen. Und Spannung gab es sowohl zwischen Mogens und mir als auch zwischen meiner Mutter und mir leider allzu oft.
Ich kannte Mogens schon seit der Grundschule, als seine Familie in unser Nachbarhaus gezogen war. Schon den ersten Sommer verbrachte ich beinahe jeden Nachmittag dort, denn sie hatten ein Schwimmbad im Garten, und es war so gemütlich bei seiner Familie. Das Wohnzimmer duftete stets nach frisch gebackenen Zimtrollen, die Sonne zeichnete Muster auf die blanken Holzdielen und an den Wänden hingen bunt gewebte Teppiche. Jeden Tag gingen wir zusammen zur Schule, und irgendwann im letzten Sommer, als wir von einem Konzert kamen, hatte er meine Hand genommen und sie nicht mehr losgelassen. Seine Finger hatten sich warm und fest zwischen meine gewoben, und ich hatte ihn kaum ansehen können, nur einmal, ganz kurz, hatte ich unter meinem Pony hervor zu ihm hinübergeschielt. Mogens hatte mich dabei erwischt und gelächelt, ehe er meine Hand an seine Lippen gehoben und sie geküsst hatte, sodass meine Haut unter seiner Berührung brannte.
Als wir dann an unserem Haus angekommen waren, fand ich den Haustürschlüssel nicht sofort.
»Lass mich dir helfen«, hatte Mogens gesagt. Wir griffen beide gleichzeitig in die Tasche, und unsere Köpfe kamen dabei einander sehr nahe, viel näher als je zuvor und viel zu nahe, als dass ich hätte ruhig bleiben können. Mir wurde derMund trocken. Mogens schwieg, seine Finger strichen zärtlich über meine Wange und legten sich unter mein Kinn. Am Himmel stieg gerade erst der Abendstern auf, doch in Mogens’ Augen glitzerte bereits ein ganzes Firmament.
»Mogens«, flüsterte ich. »Nicht.«
»Doch. Bitte«, hatte er in mein Haar gemurmelt, mir so nahe und so vertraut. Ich hob den Kopf, um etwas zu erwidern, und irgendwie senkte Mogens seinen im selben Augenblick. Es war wohl einfach einer dieser irren Zufälle. Aber nein, bei Mogens gab es keine Zufälle.
Sein Gesicht war so dicht an meinem, als er mein Kinn anhob und seine Lippen auf meine legte, tastend und vorsichtig. Ich vergaß zu atmen und mein Herz schlug hart in meiner Brust. Er küsste mich wieder und wieder, bis meine Lippen mit seinen verschmolzen, als seien sie füreinander geschaffen. Sein Atem schmeckte frisch und alles passte zusammen und schmiegte sich aneinander: meine Beine an seine, seine Brust an meine und seine Hände, die sich sanft um mein Gesicht legten, als sei es ein Wertstück. In meinem Bauch flatterten unzählige Schmetterlinge.
»Ava«, hatte Mogens in mein Ohr geflüstert. Sonst nichts. Nur meinen Namen, ehe wir zusammen schwiegen. Wir standen lange vor der Haustür, so lange, bis der Abendstern dort oben am samtenen Nachthimmel unter all dem Schimmern der anderen Sterne nicht mehr zu finden war. So lange, bis es mich fröstelte und selbst Mogens’ Arme mich nicht mehr hatten wärmen können.
Danach war anscheinend allen
schon immer
klar gewesen, dass Mogens und ich zusammenkommen würden.
Allen, außer mir.
Denn die Schmetterlinge waren nicht wiedergekommen. Obwohl wir uns beinahe täglich sahen, gemeinsam Hausaufgaben machten, im Sommer ins Freibad radelten und uns im Winter zum Schlittschuhfahren verabredeten. Obwohl wir Händchen hielten und uns so küssten, wie wir uns an dem Abend vor der Haustür geküsst hatten.
Aber Mogens drängte mich nicht, sondern wartete geduldig und vertrauensvoll darauf, dass ich bereit sein würde, ganz und gar ihm zu gehören. Denn so weit war ich bisher mit ihm nicht gegangen und inzwischen konnte ich es mir auch gar nicht mehr vorstellen. Mogens war wirklich nett, aber … aber, ich wusste selber nicht so genau. – Das war immerhin ein
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