Eine Liebe wie Magie
gewesen sein konnte, die den Brief an Tony geschrieben hatte?«
Noah drehte sich um und sah seine Tante an. Sein Mund hatte unnachgiebige Züge. »Nein, eigentlich nicht, Tante, ich erkenne vielmehr, wieso sie sehr wahrscheinlich wirklich den Brief geschrieben hat. Ist es nicht offensichtlich, daß sie eine Heirat mit einem älteren Mann anstrebt — einem, der sie anschließend
zur Witwe macht und sie sowohl unabhängig als auch wohlhabend hinterläßt?«
Wäre es im Ballsaal nicht so laut gewesen, er hätte schwören können, Amelia hätte unüberhörbar ausgeatmet. »Mein Lieber, wenn du nur wüßtest, wie lächerlich deine Worte sind. Diese Männer sind höchstwahrscheinlich mehr daran interessiert, sich mit Lady Augusta über ihren Vater zu unterhalten, als an irgend etwas anderem. Warum denken immer alle, daß jedes Mal, wenn eine Dame einem Mann — irgendeinem Mann - ihre Aufmerksamkeit schenkt, daß es da eine romantische Verbindung geben muß? Himmel, wäre das der Fall, dann hätte ich schon mit fast jedem Mann in London etwas gehabt!«
Noah starrte seine Tante an, unfähig, seine Ungläubigkeit zu verbergen. Er erinnerte sich, daß sie unverheiratet war und daher von diesen Dingen keine Ahnung hatte. In Lady Augusta sah sie wahrscheinlich ihr jüngeres Ebenbild, nicht mehr. Aber er sah Lady Augusta Brierley in einem sehr klaren Licht, noch heller als das Licht der Dutzend Kronleuchter, die über ihnen hingen. Und das Bild, das er von ihr hatte, war jetzt noch abstoßender als vorher.
Noah beobachtete, wie sich Lady Augusta von ihrer betagten Begleitung entfernte, oder besser entfernt wurde, von einer Frau, die ihre ältere Schwester hätte sein können, ungeachtet der Tatsache, daß sie sich so ähnlich sahen, wie ein Baum einem Felsen. Vielleicht sogar noch weniger.
»Charlotte, Lady Trecastle«, bemerkte Amelia, die ihn beobachtet hatte. »Sie ist seit gut zehn Monaten Lady Augustas Stiefmutter. Ich sehe sie heute zum ersten Mal. Man sagt, der Marquis habe sie in einer privaten Zeremonie geheiratet, zwei Monate nach seiner Rückkehr aus dem Orient. Kannte sie kaum.«
Noah sagte nichts, er beobachtete nur, wie die Marquise Lady Augusta aus dem Kreis der Gentlemen, die sie umringt hatten, mit dem Ausdruck reinen Mißfallens fortzog. Es hatte den Anschein, als würde ihre Stiefmutter ihr Benehmen ebenfalls mißbilligen. Und hatte dies nicht auch Tony an jenem letzten Abend gesagt?
Noah fragte sich, wie eine Dame, irgendeine Dame, es fertigbrachte, fröhlich durch einen Ballsaal zu tänzeln, so kurze Zeit nachdem sie den Tod eines Mannes verursacht hatte; wie sie so unberührt scheinen konnte, nachdem durch ihre Handlungen sein eigenes und Sarahs Leben für immer verändert worden waren. Selbst hier konnte er das gelegentliche Flüstern hören, denn wo auch immer er hinging, Tonys Tod schien ihm zu folgen.
Das Ereignis jener schrecklichen Nacht hatte der Gesellschaft ein Gesprächsthema präsentiert, zu einer Zeit, als unglücklicherweise sonst nicht viel passierte. Napoleon war ins Exil verbannt, dieses Mal für immer nach St. Helena, und zum ersten Mal, soweit die meisten zurückdenken konnten, befand sich das Land nicht im Kriegszustand. Prinzessin Charlotte hatte aus Liebe geheiratet und sah der Geburt des zukünftigen Thronerben entgegen. Die nationalen Emotionen hatten sich beruhigt, und die Zukunft Englands schien gesichert, so wurde der plötzliche Tod eines Edelmannes in der feinen Gesellschaft als willkommene Ablenkung aufgenommen.
Der Arzt, der in der Todesnacht ins Keighley House gekommen war, war bei seiner Einschätzung geblieben, der Leichenbeschauer hatte den Tod als Unfall deklariert und damit eine Untersuchung verhindert. Allerdings war die Tatsache, daß Noah anwesend war und Tonys Leiche entdeckt hatte, nicht lange unbekannt geblieben. Bald schien es jeder zu wissen. Und jeder machte sich Gedanken. Noah wurde für alle zum Sammelbecken ihrer Fragen.
Wie ist es denn passiert?
Es wurde gesagt, der Schuß hätte Lord Keighleys Gesicht getroffen. War er überhaupt noch zu erkennen?
Was ist an dem Gerücht, er hätte sich die ganze Hand abgeschossen? Daß er noch Stunden unter unvorstellbaren Schmerzen gelitten hatte, bevor der Tod ihn schließlich erlöste?
Die morbide Neugier der Öffentlichkeit war voller Indiskretion und bewirkte nur, daß in Noah jedesmal die Erinnerung an jene Nacht wachgerufen wurde, wenn irgend jemand an ihn herantrat, um das eine oder andere Detail in
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