Eine Liebesehe
Himmel, der sekundenlang verweilt hatte, um einen kleinen Ausflug zu verderben, seiner eigentlichen Aufgabe entgegenflog.
Hand in Hand schlichen die Mädchen in der furchtbaren Stille zum Rande des Kraters, um zu sehen, ob ihre Eltern dort waren, und gewahrten grauenvoll, was geschehen war.
Sprachlos ließen sie sich nieder und zogen Strümpfe und Schuhe an. Der Picknickkorb war unversehrt, auch die Handtasche der Mutter.
Angele wandte sich an Germaine: »Sollen wir die Sachen mitnehmen?«
»Natürlich«, antwortete Germaine. »Mama wäre es gar nicht recht, wenn ihre Sachen zurückbleiben würden.«
Sie hoben den Korb und die Tasche auf und gingen langsam zur Autobushaltestelle. Das Portemonnaie enthielt Geld, und sie lösten ihren Rückfahrschein nach Paris. Die Stadt war sehr ruhig, sehr friedlich am Spätnachmittag. Die Leute machten einen gesetzten Eindruck. Die Nachrichten von der Front klangen ernst, sehr ernst. Trinkend und essend saßen die Leute draußen und sprachen darüber, wie böse es aussah. Niemand achtete sonderlich auf zwei blasse, sehr ordentlich gekleidete Mädchen, die zwischen sich einen Korb trugen.
So langten sie zu Hause an, und erst vor der vertrauten Türe wurde ihnen klar, was geschehen war.
Sie blickten einander an.
»Ach«, stieß Germaine hervor, »wir haben keine Eltern mehr!«
Angeles hellgraue Augen weiteten sich, und als sie das Entsetzen im Gesicht ihrer älteren Schwester wahrnahm, begann sie laut zu weinen, was ihre Mutter niemals zugelassen hätte.
Die Concierge kam herausgewatschelt.
»Was ist los?« Dann sah sie, wer da stand – die beiden wohlerzogenen Töchterchen des dicken Amerikaners. »Na, was denn?« fragte sie, und als ihr schluchzend die unfaßbare Tatsache mitgeteilt wurde, brach ihr der Schweiß aus.
Ganz sicher, sagte sie zu all den Nachbarn, die auf ihr Schreien und Rufen herbeigeeilt waren, ganz sicher könne man nur etwas tun. Die Kinder hätten einen reichen Großvater. Das habe ihr die Mutter immer wieder erzählt. Regelmäßig hätte sie ihm geschrieben, klug wie sie gewesen sei. Sie habe immer damit geprahlt, wie vollkommen sein Französisch sei, tatsächlich pariserisch. Und ganz sicher müsse man darum die kleinen Mädchen unverzüglich zu diesem reichen alten Manne schicken, der ihnen Liebe und allen Luxus geben würde. Wenn man die Sachen in der Wohnung verkaufte, reichte der Erlös zweifellos für die Fahrkarten dritter Klasse. Germaine, ein großes Mädchen schon, könne für Angele sorgen.
Die Nachbarn pflichteten bei, ja, so sollte es gemacht werden.
Inzwischen mußte man natürlich einen Brief absenden, in dem man den traurigen Vorfall mitteilte.
Zungenfertige französische Stimmen, die einander widersprachen und unterbrachen, bestimmten das Schicksal der beiden zuhörenden Mädchen und riefen, welches Glück für sie, daß sie einen reichen Amerikaner zum Großvater hätten; freundliche Franzosen würden sich ihrer annehmen, bis sie reisen könnten.
Madame d'Aubigne, die in dem Stockwerk über ihnen wohnte, nahm sie zu sich und färbte ihre Kleider schwarz, und Monsieur Albe übernahm den Möbelverkauf. In weniger als einer Woche war alles soweit, und die beiden kleinen Mädchen wurden in den Zug nach Calais gesetzt.
»Vergeßt uns nicht, wenn ihr reiche Amerikanerinnen seid«, sagten die Nachbarn und bedachten die schwarzgekleideten Kinder mit Küssen und Bonbons. »Vergeßt uns nicht!« Alle waren sie auf dem Bahnsteig, um der Abfahrt beizuwohnen.
Madame d'Aubigne seufzte. »In Amerika zu leben, weit weg vom Feind, das ist kein schlechtes Schicksal«, sagte sie.
»Gewiß kein sehr schlechtes«, stimmte Monsieur Albe zu.
Durch sonderbare stille Straßen zogen sie heim. Heute lauteten die Kriegsnachrichten entschieden schlecht.
William, der unter der Sykomore in einem Lehnstuhl saß, las den Brief noch einmal.
Hals Töchter, Germaine und Angele, sollten zu ihm geschickt werden. Hal war tot, seine Frau ebenfalls.
Er wußte es seit fast zwei Stunden, aber er hatte Ruth nicht gerufen. Sie war dann und wann zur Küchentür gekommen, aber er hatte sich den Anschein gegeben, als schliefe er mit dem Brief in der Hand.
Als sie zu ihm trat, um ihm zu melden, daß das Mittagessen fertig sei, konnte er ihr die Nachricht nicht mehr vorenthalten.
Zwei kleine Mädchen im Hause, Französinnen, die wahrscheinlich nur Französisch sprachen! Alles, was ihnen mitgeteilt werden sollte, mußte er ihnen sagen. Er mußte ihnen auf jede
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