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Eine Liebesehe

Titel: Eine Liebesehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearl S. Buck
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erdenkliche Weise beistehen, denn er trug die Verantwortung für ihr Leben. Wäre er nicht vor vielen Jahren an einem ähnlichen Sommertag wie dem heutigen den Pfad entlanggegangen, gerade an diesem Baume vorbei, dann wäre all dies nicht geschehen.
    »Germaine und Angele!« murmelte er und schloß die Augen, weil ihn, wie neuerdings so oft, mit einem Male der Schlaf überkam.
    »Geht es ihnen gut?«
    Ruths Stimme, die unerwartet erklang, ließ ihn zusammenschrecken. Er öffnete die Augen und sah sie vor sich stehen; ihr braunrotes Gesicht strahlte unter dem weißen Haar Gesundheit aus.
    »Das Essen ist fertig«, sagte sie. »Neuigkeiten von Hal?« fragte sie mit einem Blick auf den Brief.
    Er überlegte, ob er es ihr jetzt oder erst nach der Mahlzeit berichten sollte. Aber wie konnte er essen? Und wenn er nichts zu sich nahm, sorgte sie sich und zürnte.
    »Dieser Brief«, antwortete er und nahm das dünne, linierte Blatt in die Hand, »bringt schlimme Nachrichten.«
    Er sah sie an. Sie setzte die feste Miene auf, die sie immer zeigte, wenn sie sich für eine Aufgabe vorbereitete.
    »Was ist mit Hal geschehn?«
    »Ein schreckliches Unglück, mein Herz.«
    Sie ließ sich rasch auf der Gartenbank nieder. »Sag es mir lieber geradeheraus, William.«
    Da sagte er es ihr, übersetzte Satz für Satz den schlimmen französischen Brief.
    Dann faltete er das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche. Als er Ruth anschaute, bemerkte er zum erstenmal, daß sie eine alte Frau geworden war. Er beugte sich über die Armlehne, ergriff ihre Hand und hielt sie fest, wobei er sich bemühte, das leichte Zittern seiner eigenen Hand zu beherrschen.
    »Mein Liebes«, sagte er.
    Aber sie sagte nichts. Sie saß in der völligen Stille des zutiefst verwundeten Menschen, starrte über das Tal und den Fluß, der sich als breites, helles Band dahinzog.
    Halb erstaunt, halb beschämt stellte er fest, wieviel weniger ihn Hals Tod traf als der Tod von Elises jüngstem Sohn, der vor vielen Jahren im Ersten Weltkrieg gefallen war. Weltkriege! Von nun ab gab es nichts anderes mehr als Weltkriege. Durch Schnellzüge, Automobile und Flugzeuge war die Welt ein engbegrenztes Gebiet geworden, und der Unschuldige wurde wie der Schuldige hineinverwickelt. Aber wenn das Leben irgendwelchen Sinn hatte, so einfach deshalb, weil der Unschuldige sich immer mit dem Schuldigen mischte – Gott, der über Gerechte und Ungerechte regnen ließ! Nicht daß er an seinem Lebensabend an Gott glaubte. Es war ihm gegeben, seinen eigenen Tod in aller Ruhe als einen Vorfall zu betrachten, der zu geringfügig war, als daß er Bedeutung gehabt hätte, auch für ihn selbst. An der Fortdauer nahm er keinen Anteil. Immerhin dachte er ziemlich viel darüber nach, und wenn ihm die Wahl geblieben wäre, so hätte er wohl, meinte er, ewigen Schlaf gewählt. ›Ich habe lange genug gelebt‹, sagte er sich. ›Es hat keinen Zweck, alles noch einmal durchzumachen.‹
    Mit Hal aber verhielt es sich anders. Hal war in der Mitte seines Lebens abberufen worden, ohne das Alter kennengelernt zu haben. William überlegte den Wert dieser letzten fünfzehn Jahre. Nein, er hätte sie nicht versäumen mögen. Sie waren ebenso wertvoll wie die Kindheit, und er hatte sie weitaus mehr genossen als seine Kindheit. Die Kindheit war unsicher und verwirrend gewesen. Damals hatte er nicht von Tag zu Tag gewußt, was das Leben ihm aufbürden würde. Im Alter hingegen konnte ihm das Leben keine Streiche mehr spielen. Er kannte es genau, und der Tod barg keine Schrecken, weil er einfach ein Ende bedeutete.
    »Was wollen wir mit den Mädchen machen?« fragte Ruth.
    Ihre Stimme kam so plötzlich, daß er aufzuckte. Sein Geist, der sich immer in den Fernen der Ewigkeit bewegte, kehrte zur Erde zurück.
    »Nun, sie gehören zu uns, und ich nehme an, daß wir für sie sorgen müssen.«
    Er hatte Hal wieder vergessen, aber nun mußte er erneut an diese beiden jungen Französinnen denken, die mit keinem Menschen außer ihm sprechen konnten.
    »Ich werde nie das Gefühl haben, daß sie zu uns gehören«, sagte Ruth entschieden.
    »Oh, aber Ruth!« Er war betrübt beim Gedanken an die beiden Kinder, die alles dessen, was sie kannten, beraubt waren. »Liebes, es sind Hals Kinder.«
    »Ich empfinde es nicht so.«
    Langsam sann er darüber nach, und seine Betrübnis vertiefte sich. Marys Haus war voll, und außerdem, mit wem konnten sie in Marys Hause sprechen? Und er war so alt. Wie vermochte er, selbst wenn sie

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