Eine Marcelli geht aufs Ganze
Arme anmutig über dem Kopf, beugte sich in der Hüfte und drehte sich dabei ein wenig. Ihr Gesichtsausdruck zeugte von höchster Konzentration. Trotz der schlichten schwarzen Strumpfhose, dem ebenfalls schwarzen Trikot, den streng zurückgebundenen Haaren und der reinen, ungeschminkten Haut erinnerte sie Francesca an einen Schmetterling, der an einem perfekten Sommertag elegant und freudig von einer Blume zur nächsten flatterte.
In der letzten Stunde hatte sie gelernt, dass die Welt des Balletts viel mehr aus harter Arbeit als aus lustigem Umherflattern bestand, doch das Ergebnis war einfach wunderschön anzusehen. Als die Musik ein wenig anschwoll, erhob Kelly sich auf die Zehen und fing an, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Ihr kleiner Rock schwang im Rhythmus der Bewegung.
Francesca wusste, dass sie eigentlich ihre Unterlagen ordnen sollte oder das Fachbuch lesen, das sie mitgebracht hatte, aber sie konnte sich einfach nicht von Kellys Vortanzen losreißen. Was sie über Ballett und klassische Musik wusste, passte in einen Fingerhut. Sie hatte ein paar Mal den Nussknacker gesehen, aber ansonsten hatte sich ihre kulturelle Bildung auf gelegentliche Ausflüge in die Oper beschränkt.
Obwohl sie ganz am Rand des Übungsraumes saß, konnte sie genau erkennen, wie schwierig die Schritte waren. Die erste halbe Stunde hatten die Elevinnen sich ausschließlich ganz speziellen Bewegungen gewidmet, die sehr langsam ausgeführt wurden. Aber die mangelnde Geschwindigkeit machte es nicht leichter. In der zweiten Hälfte wurden verschiedene Teile einer Choreografie geübt. Die Lehrerin hatte den Namen eines Ballettstücks und ein paar Anweisungen auf Französisch gegeben, und Kelly hatte angefangen zu tanzen.
Francesca schaute ihr zu. Das schmale Mädchen bewegte sich mit einer Anmut, die Francesca neidisch machte. Mit den zurückgebundenen Haaren sah sie älter aus als zwölf. Ihre Augen wirkten viel grüner als am Abend zuvor. Sie war bereits sehr hübsch – es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihre Schönheit voll erblühen würde. Sam konnte sich schon mal auf einigen Ärger einrichten, wenn die Jungs erst einmal anfingen, sich für Kelly zu interessieren.
Die Trainerin – Miss Angelina – sprach sehr schnell und auf Französisch. Francesca hatte auf der Highschool ein paar Jahre Spanisch gelernt und konnte dank der Familie ihres Vaters ein paar Brocken Italienisch. Doch hier verstand sie nichts. Miss Angelina könnte Kelly genauso gut Anweisungen geben, einen Lebensmittelladen zu überfallen, Francesca würde es nicht mitbekommen. Anstatt jedoch zu den Waffen zu greifen, machte Kelly einen kleinen Knicks.
Miss Angelina nickte und verließ den Raum. Kelly starrte ihr hinterher.
In diesem Moment stand ihr die Sehnsucht wie mit Leuchtstift ins Gesicht geschrieben. Sie sah einsam aus, verletzlich und sehr jung.
Francesca stand auf. »Was ist passiert?«
Kelly zuckte mit den Schultern. »Ich bin dabei. Keine große Sache. Du hast die anderen Mädchen ja gesehen, als wir herkamen. Einige von ihnen sind ganz gut, aber die meisten ...« Sie zuckte erneut mit den Schultern und setzte sich in Richtung Umkleidekabine in Bewegung.
Francesca wollte ihr nachgehen und sie schütteln. Zu diesem Tanzkurs zugelassen zu werden war eine große Sache. Warum konnte Kelly sich nicht freuen? Warum sprang sie nicht jubelnd auf und ab wie andere Kinder? Hatte das Leben sie womöglich gelehrt, keine Gefühle zu zeigen, weil sie gegen sie verwendet werden konnten?
»Ich habe hier Kellys Aufnahmeunterlagen«, sagte die Lehrerin, die gerade in den Raum zurückkehrte. Sie hatte einen leicht singenden Tonfall und den Hauch eines französischen Akzents.
»Sie wurde in die obere Mittelstufe eingeteilt. Wenn sie hart arbeitet, wird sie in einem Jahr zu den Fortgeschrittenen gehören.«
Miss Angelina schaute Francesca misstrauisch an. »Sind Sie ihre Mutter?«, fragte sie zweifelnd.
»Nein, eine Freundin der Familie.« Francesca widerstand dem Drang, sich unter Angelinas Blick gerade hinzustellen und die Schultern zu straffen.
»Sie braucht einen Übungsraum. Der Unterricht findet im Sommer an fünf Tagen statt, aber wenn die Schule wieder anfängt, nur noch an drei Tagen.« Sie zuckte mit den zierlichen Schultern. »An den anderen Tagen wird sie alleine üben müssen. Außer Sie engagieren einen Privatlehrer.«
Einen Privatlehrer? Damit sie den Rest der Zeit tanzen konnte. Das hier war überhaupt nicht Francescas Welt.
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