Eine Marcelli geht aufs Ganze
Wenigstens hatte Sams Haus genügend Zimmer. Eines davon würde man vermutlich in einen Übungsraum umwandeln können.
»Ich werde es ihrem Vater sagen.«
»Meine Rechnung.« Die Lehrerin reichte ihr ein Blatt Papier. »Das ist für einen Monat Unterricht.«
Francesca warf einen Blick auf die Zahl und wäre fast umgefallen. Von der Summe hätte sie locker zwei Monate leben können.
»Sonst noch etwas?« Sie versuchte, sich den Schock nicht anmerken zu lassen.
Lächelnd schüttelte Angelina den Kopf. »Der Rest liegt jetzt an Kelly. Bald werden wir sehen, ob sie das Rückgrat und den Ehrgeiz hat, sich ganz dem Ballett zu verschreiben. Sie besitzt sehr viel Talent, aber an diesem Punkt ihrer Karriere kommt der Erfolg nur über harte Arbeit. Oui?«
Kelly war erst zwölf. Francesca fand nicht, dass man da schon von Karriere sprechen sollte.
»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte sie.
Angelina nickte graziös und ging in ihr Büro. Sekunden später kam Kelly aus dem Umkleideraum.
»Das war mal was«, sagte Francesca, als Kelly in Hörweite war. »Ich bin beeindruckt und begeistert. Ich wusste gar nicht, dass im Unterricht so hart gearbeitet wird.«
»Das war kein normaler Unterricht. Miss Angelina wollte sehen, was ich schon kann. Sind das die Aufnahmeunterlagen?« Sie zeigte auf die Mappe.
»Ja. Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich sie deinem Vater geben. Wo wir gerade davon sprechen – willst du direkt nach Hause, oder wollen wir noch irgendwo etwas essen? Es ist kurz nach Mittag.«
Kelly stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Essen wäre okay.«
Francesca hätte ihr am liebsten gesagt, dass sie nicht so cool tun solle, doch sie hielt sich zurück. Wie sie Sam am Vorabend gesagt hatte, glaubte sie, dass Kelly sich nur so unerträglich benahm, weil sie Angst hatte. Irgendwo unter der stacheligen Oberfläche wartete eine charmante junge Frau darauf, zu erblühen. Das hoffte Francesca zumindest.
Dreißig Minuten später saßen sie draußen an einem Tisch im Schatten. Kelly hatte ihr Haar immer noch zurückgebunden, trug jetzt aber Jeans und T-Shirt über ihrer Ballettkleidung. Francesca las die Karte und zuckte innerlich bei den Preisen zusammen. Zwölf Dollar fünfzig für einen Salat? Wenn das die Lunchpreise waren, wie viel kostete dann ein Abendessen?
Nicht mein Problem, rief sie sich in Erinnerung. Am Morgen hatte Sam ihr ein Bündel Geldscheine und einen Zettel mit all seinen Telefonnummern in die Hand gedrückt und ihr quasi befohlen, viel Spaß zu haben. Es war ihr unangenehm gewesen, Geld von ihm zu nehmen, aber, wie er ganz richtig sagte, kümmerte sie sich um seine Tochter. Das war schon großzügig genug, da musste sie dafür nicht auch noch bezahlen.
Sie hatte eingewilligt, allerdings hauptsächlich, weil sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Läden wie dieser lagen außerhalb ihres Budgets.
Die Kellnerin kam. Francesca und Kelly bestellten beide den chinesischen Hühnersalat. Kelly wollte vorab einen Teller Suppe, während Francesca das frische französische Baguette, das an jedem Tisch serviert wurde, vollkommen reichte.
Als sie wieder allein waren, schaute Francesca sich Sams Tochter genauer an. Das Mädchen beobachtete sie und war dabei so auf der Hut, als wäre sie nicht sicher, was als Nächstes passieren würde. Okay, die Situation war für sie beide ein wenig seltsam. Vor nicht einmal achtundvierzig Stunden hatte keiner von ihnen von der Existenz der anderen auch nur geahnt. Francesca wusste, als Erwachsene war es ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Kelly sich wohlfühlte.
»Du bist eine unglaubliche Tänzerin«, sagte sie wie beiläufig, während sie ein Stück Brot mit Butter bestrich. »Wie lange tanzt du schon Ballett?«
»Seit ich sechs bin. Anfangs habe ich viele verschiedene Sachen ausprobiert – Stepptanz, Modern Dance und Ballett. Ein paar Jahre später habe ich mich dann ganz auf Ballett konzentriert.«
Francesca versuchte sich zu erinnern, ob sie sich als Kind jemals auf irgendetwas anderes konzentriert hatte als darauf, mit ihren Schwestern Spaß zu haben. »Tut es weh, auf den Zehenspitzen zu tanzen?«
»Ein wenig. Aber man gewöhnt sich dran. Ich mache seit über einem Jahr Spitzentanz. Das ist keine große Sache.«
Das bezweifelte Francesca. »Für mich klingt es aber so. Allerdings muss ich zugeben, dass ich noch nie ein sonderlich gutes Körpergefühl hatte. Wenn ich eine der Bewegungen versuchen würde, die du machst,
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