Eine Messe für all die Toten
lange
Gefällstrecke nach Broadway hinunter, dessen Häuser aus Cotswold-Stein in
warmem Gelb in der Nachmittagssonne leuchteten. In Evesham bestand Morse
darauf, daß sie über Pershore fuhren, wo er sich an den roten Backsteinhäusern
mit den weißen Fensterstürzen begeisterte, und in Worcester wies er Lewis in
die Bromyard Road ein.
«Eine der schönsten Straßen Englands, das laß
ich mir nicht nehmen», erklärte Morse, als sie nach Leominster auf die A 49
einbogen.
Lewis hüllte sich in Schweigen. Es war auch ein
schöner Umweg, und wenn das so weiterging, waren sie nicht vor sieben in
Shrewsbury. Aber als sie an Church Stretton vorbeifuhren, fand Lewis, daß Morse
vielleicht gar nicht so unrecht hatte. Flinter dem Long Mynd ließ die Sonne,
die noch abschiednehmend über den walisischen Bergen im Westen stand, den
Abendhimmel rot erglühen, und das Weiß der Wolken wandelte sich zu zartestem
Violett. Doch, wirklich, dachte Lewis, da ist schon was dran.
Es war halb acht, als sie endlich im Büro des
Superintendent in Shrewsbury saßen, und als sie herauskamen, war es halb neun.
Morse hatte wenig gesagt, Lewis noch weniger, beide wußten, daß das Gespräch
reine Routine gewesen war. Der Verdacht richtete sich auf keine bestimmte
Person, ein Motiv war nicht erkennbar. Die Mitarbeiterinnen waren der Toten mit
kameradschaftlicher Sympathie begegnet, die Sympathie der Ober- und
Assistenzärzte stand ebensowenig außer Zweifel, war allerdings wohl weniger
kameradschaftlicher Art gewesen. An ihren pflegerischen Qualifikationen hätte
selbst Florence Nightingale kaum etwas auszusetzen gehabt. Einer der Ärzte
hatte am Vorabend mit ihr gesprochen, hatte neben ihr im Schwesternzimmer
gesessen, sie hatten ein Kreuzworträtsel vor sich gehabt. Er war vermutlich der
letzte gewesen, der sie — wenn man von dem Mörder absah — vor ihrem Tod gesehen
hatte, aber es bestand kein Grund zu der Annahme, daß er in die Sache
verwickelt war. Fest stand nur, daß jemand sie mit ihrem eigenen Gürtel brutal
erwürgt hatte und für tot neben dem Bett hatte liegenlassen, von wo sie sich
dann später zur Tür geschleppt und verzweifelt versucht hatte, um Hilfe zu
rufen. Aber niemand hatte sie gehört, niemand war gekommen.
«Tja, dann sehen wir sie uns wohl am besten mal
an», sagte Morse widerstrebend.
In der cremefarbenen gekachelten
Leichenschauhalle der Polizei zog ein Constable ein Fach aus dem
Stahlrahmengestell und nahm das Tuch von dem weißen, wächsernen Gesicht. Die
weit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen zeugten von einem qualvollen Tod.
Am Hals und bis hinauf zum rechten Ohr verlief die grausige Spur des Gürtels.
«Wahrscheinlich Linkshänder», brummelte Lewis.
«Das heißt — wenn er sie von vorn gewürgt hat.» Er sah sich um. Morse hatte die
Augen geschlossen.
Fünf Minuten später, als sie sich im Vorraum den
Inhalt der Taschen und der Handtasche der Toten ansahen, war Morse wieder
bedeutend munterer.
«Die Handschrift dürfte sich leicht überprüfen
lassen», meinte Lewis, als er sah, daß Morse den Brief aus Kidlington in der Hand
hatte.
«Das wird kaum nötig sein.» Morse nahm sich die
übrigen Sachen aus der Handtasche vor. Zwei Taschenkalender, ein
Damentaschentuch, eine lederne Geldbörse, drei Essensmarken und die üblichen
Gerätschaften weiblicher Verschönerungsbemühungen: Parfüm, Nagelfeile, Kamm,
Handspiegel, Lidschatten, Lippenstift, Kosmetiktücher.
«Trug sie viel Make-up, als sie gefunden wurde?»
fragte Morse.
Der Superintendent sah etwas betreten drein.
«Etwas wohl, aber —»
«Sie war gerade vom Dienst gekommen, nicht?
Dürfen sich denn Krankenschwestern so aufdonnern?»
«Sie meinen, daß sie vielleicht Besuch erwartet
hat?»
Morse zuckte die Schultern. «Möglich wär’s.»
Der Superintendent nickte nachdenklich und
fragte sich, warum er daran nicht selbst schon gedacht hatte. Aber Morse
kümmerte sich nicht weiter darum, als sei es für ihn nicht mehr wichtig.
In der Geldbörse waren sechs Pfundnoten, etwa
fünfzig Pence in Münzen und ein Busfahrplan. «Kein Führerschein», sagte Morse
nur. Der Superintendent bestätigte, daß sie keinen Wagen besessen hatte.
«Sie hat sich sehr bemüht, ihre Spuren zu
verwischen, Super. Vielleicht hatte sie Angst, jemand könnte sie finden.» Aber
auch an diesem Gedankengang schien er schnell wieder das Interesse zu
verlieren. Einer der Taschenkalender war vom laufenden, der andere vom
vergangenen Jahr.
«Das Tagebuchschreiben
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