Eine Messe für all die Toten
Anzeigetafeln vergessen? Oder
war das Aufgabe des Pfarrers? Eines Chormitglieds? Eines der Hilfsgeistlichen?
Denn irgendjemand mußte sich ja um diese Dinge kümmern, mußte die Choräle,
Psalmen, Gebete, Episteln und Evangelien aussuchen. Vermutlich stand das alles
in einem dicken frommen Buch, in dem die Geistlichkeit nachschlagen konnte. Wie
die Heiligenfeste und kirchlichen Feiertage. Kein Mensch konnte so was
auswendig wissen. Außerdem mußte sich jemand Aufzeichnungen über die
Gottesdienste machen, besonders wenn es so viele waren wie — Ja, das war der
entscheidende Punkt. Er ging rasch zurück zum Nordportal und griff sich eine
der Gemeindemitteilungen.
St. Frideswide’s-Kirche, Oxford
Gottesdienste: Sonntags Messe und Heiliges
Abendmahl 8.00, 10.30 (Hochamt), 17.30. Abendgottesdienst 18.00
Wochentags: Dienstag und Freitag Messe 19.30,
an Feiertagen 7.30 und 19.30 (Feierliches
Hochamt).
Beichtgelegenheit: Freitag- und Samstagmittag
oder nach Vereinbarung.
Geistliche: Kanonikus K. D. Meiklejohn
(Pfarrer),
Pfarrhaus St. Frideswide’s; Neil Armitage
(Hilfspfarrer),
Port Meadow Lane 19.
April
1. Zur Oster-Oktave
2. Um 10.30 Uhr predigt der Bischof von
Brighton. Gemeindeversammlung 18.15 Uhr
3. St. Richard von Chichester Messe 8.00 Uhr und
19.30 Uhr
4. Rosenkranz 11.00 Uhr
5. Mütterkreis 14.45 Uhr
6. Dekanatssynode 19.45 Uhr
7. Rosenkranz 17.00- 18.00 Uhr
8. Ostern...
Und so weiter durch den ganzen Monat; in zwei
der folgenden drei Wochen war jeweils ein Feiertag. Der Name Armitage war Morse
bisher noch nicht untergekommen, vermutlich war der Hilfspfarrer eine
Neuerscheinung und wohl einer der drei feierlichen Herren in den
Purpurgewändern gewesen. Bei so vielen Gottesdiensten war ja auch Beistand
nötig. Einer allein war da mit entschieden überfordert, vor allem, wenn ihm
zusätzlich noch die seelsorgerliche Pflicht oblag, die Lahmen, Kranken und
Blinden zu besuchen. Und dann kam Morse ein Gedanke, bei dem ihm eiskalt wurde.
Hatte Lawson einen Hilfspfarrer gehabt? Nun, das würde sich unschwer
feststellen lassen.
Er steckte die Gemeindemitteilungen ein und
wandte sich wieder der Kirche zu. Eine lange, mit Troddeln verzierte Kordel
versperrte den Zugang zum Altar der Marienkapelle. Morse stieg respektlos
darüber hinweg und blieb vor der üppigen Altardecke stehen. Links von ihm war
der Bogengang, der zum Hauptaltar führte. Er durchschritt ihn langsam. In einer
Nische links vom Durchgang stand ein frühgotisches Taufbecken. Morse
betrachtete es genau und nickte vor sich hin. Dann wandte er sich nach links,
ging an dem Lettner entlang, der die Marienkapelle vom Hauptschiff trennte, und
machte vor der Sakristei halt. Er zog ein zufriedenes Gesicht und nickte noch
ein paarmal leicht lächelnd vor sich hin.
Morse war jetzt nur wenige Schritte von dem
Hinweis entfernt, der einige seiner früheren Hypothesen null und nichtig machen
sollte, doch das wußte er noch nicht. Die Tür am Nordportal ging auf, und
Meiklejohn, eine Schachtel mit Glühbirnen in der Hand, kam herein. Ihm folgte
ein junger Mann, der eine Ausziehleiter auf der Schulter balancierte.
«Guten Tag, Inspector», sagte der Pfarrer.
«Haben Sie noch etwas entdeckt?»
Morse grunzte unverbindlich und beschloß, die
Besichtigung der Sakristei fürs erste zu vertagen.
«Wir wollen eben mal die Glühbirnen
auswechseln», fuhr Meiklejohn fort. «Das machen wir alle drei, vier Monate.
Ziemlich viele sind schon ausgebrannt.»
Morse blickte nach oben. In zwölf Meter Höhe sah
er, jeweils paarweise angeordnet und in etwa sechs Metern Abstand, eine Reihe
elektrischer Beleuchtungskörper. Inzwischen war die Leiter an das nächstgelegene
Lampenpaar angelegt worden, und unter immer heftigerem Schwanken schob sich die
Leiter immer höher, bis die dritte, oben schmal zulaufende Ausziehstufe zwanzig
oder dreißig Zentimeter unterhalb des ersten Lampenpaares lehnte.
«So leid’s mir tut», sagte Morse, «ich hab
einfach nicht den Nerv, da weiter hinzusehen.»
«Sieht schlimmer aus, als es ist, Inspector, man
muß nur ein bißchen aufpassen. Allerdings bin ich auch immer froh, wenn es
vorbei ist.»
«Er ist der bessere Mann.» Morse deutete auf den
jungen Helfer, der — etwas ängstlich, wie ihm schien — auf der zweiten Sprosse
von unten stand und sich bemühte, der Leiter zu einem festeren Stand zu
verhelfen.
Meiklejohn lächelte leicht. «Er ist fast ebenso
schlimm dran wie Sie, vielleicht noch schlimmer. Nein, da muß
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