Eine Messe für all die Toten
Hilfspfarrer vor fünf Jahren eine
eigene Gemeinde bekommen hatte, war beim Bischof kein Ersatz angefordert
worden, und Lawson hatte allein mit den zahlreichen Pflichten in St.
Frideswide’s fertigwerden müssen. Daß einige Gottesdienste gestrichen werden
mußten, war nach Lage der Dinge unvermeidlich, doch Meiklejohn war fest
entschlossen, so bald wie möglich die täglichen Messen um 11.15 Uhr und um
18.15 Uhr wieder einzuführen. Aus seiner Sicht waren sie für eine Kirche, die
dem Ruhm Gottes geweiht war, unverzichtbar.
Doch als er jetzt an dem alten Rollsekretär saß,
blieb die Seite, über der schon einige Zeit sein Kugelschreiber schwebte,
entmutigend leer. Es wurde höchste Zeit, daß er wieder mal über die Transsubstantiation
predigte, ein heikles Thema, gewiß, doch unabdingbar für das spirituelle Wohl
der Brüder. Aber hatte diese Predigt nicht vielleicht noch Zeit? Ein Exemplar
der Heiligen Schrift, in flexibles Leder gebunden, lag neben ihm, das Buch
Hosea war aufgeschlagen. Ein prachtvolles, denkwürdiges Buch der Bibel. Es war
fast, als habe der Allmächtige selbst nicht recht gewußt, was er mit seinem
Volk anfangen sollte, als dessen Tugend und Barmherzigkeit so vergänglich
geworden war wie eine Morgenwolke und wie Tau, der frühmorgens vergeht. War die
Kirche in Gefahr, ihre Liebe zu verlieren? Denn ohne Liebe waren Frömmigkeit
und Sorge um den Nächsten wenig mehr als ein tönend Erz oder eine klingende
Schelle... Ja, die Möglichkeiten für eine Predigt begannen sich schon
abzuzeichnen. Natürlich nicht zu ungestüm formuliert, nichts, was ihn in die
Nähe von Eiferern gerückt hätte... Aber dann fiel sein Blick auf ein früheres
Kapitel desselben Propheten: «Der Ephraim hat sich zu den Götzen gesellt. So
laßt ihn hinfahren.» Auch ein eindrucksvoller Vers. Götzendiener waren
letztlich die Mitglieder der Kirche, nicht die da draußen. Mitglieder, die
einer falschen Darstellung von Gott anhingen — womit nicht nur das Goldene Kalb
gemeint war. Es bestand immer die Gefahr, daß andere Bilder den wahren Weg zu
Gott verstellten. Dinge wie - ja, er mußte es zugeben - Dinge wie Weihrauch und
Kerzen und Weihwasser, das Bekreuzigen und Niederknien und der ganze Apparat
des Zeremoniells, der vielleicht die Reinigungskraft des Heiligen Geistes
beeinträchtigte. Nur zu leicht ließ man sich auch durch rechnerische Ergebnisse
über die geistliche Gesundheit der Kirche hinwegtäuschen, besonders wenn er,
Meiklejohn, nicht ohne Stolz bedachte, wie stark der Gottesdienstbesuch seit
seiner Ankunft zugenommen hatte. Aus den Aufzeichnungen ging hervor, daß unter
Lawsons Ägide der Besuch manchmal sehr zu wünschen übrig ließ, während der
Woche war er kaum der Rede wert gewesen. Doch Gott zählt nicht nur die Köpfe,
sagte sich Meiklejohn und wandte sich wieder dem zentralen Problem von vorhin
zu: Müßte er sich nicht mehr um das geistliche Wohl seiner Kirche kümmern?
Er war sich über den Text seiner nächsten
Predigt noch immer nicht klargeworden, das Blatt war so leer wie zuvor, die
beunruhigenden Worte des Propheten Hosea lagen noch immer vor ihm, als es
klingelte.
War es Vorsehung, daß er sich gerade mit dem
Seelenzustand von St. Frideswide’s beschäftigt hatte? Zumindest war es ein
sonderbarer Zufall, daß sein Besucher ihm — und zwar ziemlich unverblümt — dieselben
Fragen stellte, die er sich selbst schon vorgelegt hatte.
«Sie hatten letzten Sonntag großen Zulauf, Sir.»
«Nicht mehr als sonst, Inspector.»
«Wie man hört, ist bei Ihnen der
Gottesdienstbesuch noch besser als bei Lawson.»
«Vielleicht. Besonders in der Woche.»
«Sie führen Buch über die Besucherzahl?»
Meiklejohn nickte. «Ja, diesen Brauch habe ich
von meinem Vorgänger übernommen.»
«Aber nicht alle Bräuche?»
Die durchdringenden blauen Augen waren fragend
auf Meiklejohn gerichtet.
«Was wollen Sie damit sagen, Inspector?»
«War Lawson protestantischer eingestellt als
Sie?»
«Ich habe ihn nicht gekannt.»
«Aber die Antwort ist Ja?»
«Er hatte, soweit ich weiß, Ansichten, die — äh
—»
«—protestantischer waren?»
«Äh — ja, so könnte man wohl sagen.»
«Ich habe gesehen, daß den Gottesdienst am
Sonntag drei Priester geleitet haben.»
«Auf diesem Gebiet haben Sie noch einiges zu
lernen, Inspector. Nur ich und mein Hilfsgeistlicher sind ordiniert. Der
Subdiakon braucht es nicht zu sein.»
«Drei sind aber mehr als die übliche Zuteilung,
nicht?»
«Beim Gottesdienst
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