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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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am Ende, die Armmuskeln schmerzten, jeden Augenblick würde sein Körper
kapitulieren. Schon entspannte er sich, der Kopf lag jetzt fast bequem auf der
kalten Dachfläche. Riesig, diese Wetterfahne. Wie konnte nur jemand mit so
einem Gewicht auf den Schultern die Wendeltreppe bis in diese Höhe steigen?
    Zum letztenmal wurde ihm seine Lage voll bewußt,
noch ein paar Sekunden hielt er die Handgelenke seines Angreifers fest, nahm er
all seine Kraft zusammen. Doch er hatte keine Reserven mehr. Langsam lockerte
sich der Griff um das Lenkrad, er schloß die Augen vor den Lichtern der
entgegenkommenden Wagen, die ihn blendeten. Er dachte an die letzten Worte des
letzten Liedes von Richard Strauss: « Ist dies etwa der Tod? »
     
     
     

37
     
    Morse merkte, daß etwas Wundersames geschah. Der
Körper, der ihn so erbarmungslos zu Boden gedrückt hatte, wurde zugleich
schwerer und leichter, der Griff um seine Kehle fester und lockerer zur
gleichen Zeit. Der Mann stöhnte wie in unerträglichem Schmerz, und Morse konnte
ihn fast mühelos mit dem Knie wegstoßen. Der Mann rollte zum Rand des Turmes
und griff verzweifelt nach der nächsten Zinne, um sich festzuhalten. Aber der
Schwung war zu groß. Das Mauerwerk bröckelte, als seine Rechte es umfaßte, und
mit dem Kopf voran fiel der Mann über die Brüstung. Man hörte einen leiser
werdenden Schrei, während der Körper, sich überschlagend, in die Tiefe stürzte,
dann einen dumpfen Aufschlag und die entsetzten Schreie von Passanten.
    Lewis hatte noch immer das obere Ende eines
langen Messingleuchters umklammert. «Alles in Ordnung, Sir?»
    Morse blieb, wo er war, und sog beglückt, in
tiefen Atemzügen, die herrliche Luft ein. In seinen Armen tobte ein heftiger
Schmerz. Er streckte sie aus und lag nun wie ein Gekreuzigter auf dem sanft
geneigten Dach.
    «Alles in Ordnung?» Es war eine sanfte,
liebevolle Stimme. Kühle, schlanke Finger legten sich auf seine nasse Stirn.
    Morse nickte und sah sie an. Auf ihren Wangen
war ein ganz leichter, heller Flaum, und rechts und links neben der Nase hatte
sie Sommersprossen. Sie kniete neben ihm. In ihren Augen standen Tränen des
Glücks. Sie nahm seinen Kopf in ihre Arme und drückte ihn an sich, viele Tage,
viele Stunden lang, so schien es Morse.
    Sie sagte nichts. Auch als sie langsam nach
unten gingen, sie voran, aber nur so weit, daß sie sich noch immer fest an den
Händen halten konnten, schwiegen sie. Als Lewis sich ein paar Minuten später
nach ihnen umsah, saßen sie in der hintersten Bank der Marienkapelle. Sie hatte
ihr tränennasses Gesicht beglückt an seine Schulter gelegt. Und noch immer
sagten sie nichts.
    Lewis hatte die beiden auf dem Turm gesehen,
hatte sich bei dem eiligen Abstieg aus dem sechsten Stock fast den Hals
gebrochen, hatte in der Kosmetikabteilung im Erdgeschoß etliche junge Damen
über den Haufen gerannt und wie eine frustrierte Furie mit den Fäusten an die
Tür des Nordportals gehämmert. Daß die Frau noch drin war, wußte er. Aber
vielleicht war ihr was passiert? In seiner Verzweiflung hatte er mit einem
großen Stein das niedrigste und nächstgelegene Fenster eingeworfen, um auf sich
aufmerksam zu machen und sich, wenn es sein mußte, Einlaß zu verschaffen. Die
Frau hatte ihn gehört und hatte aufgeschlossen. Er hatte sich einen Leuchter
vom Altar der Heiligen Jungfrau geschnappt, war, drei Stufen auf einmal
nehmend, die Wendeltreppe hochgestürmt und hatte Morses vollbärtigem Angreifer
den Leuchter mit aller Kraft ins Kreuz geschlagen.
     
     
    Zwei Streifenpolizisten waren bereits
eingetroffen, als Lewis herauskam. Der reglose Körper war schon von Zuschauern
umringt, die vier bis fünf Meter Abstand hielten, und der Krankenwagen kam mit
jaulender Sirene vom Radcliffe her angebraust. Lewis hatte eine Soutane von
einem Haken in der Sakristei genommen, die er jetzt über den Toten breitete.
    «Wissen Sie, wer es ist?» fragte der eine
Polizist.
    «Ich glaube ja», sagte Lewis.
    «Alles in Ordnung?»
    Der bucklige Polizeiarzt war jetzt schon der
dritte, der Morse diese Frage stellte.
    «Ja, bestens. Ein paar Wochen an der Riviera,
und alles ist wieder in Butter. Nichts Ernstes.»
    «Das sagen sie alle. Wenn ich meine Patienten
frage, woran ihre Eltern gestorben sind, antworten sie jedesmal: nichts Ernstes.>»
    «Ich würd’s Ihnen schon sagen, wenn mir was
fehlt.»
    «Sie wissen doch, Morse, daß jeder Mensch, der
je geboren wurde, zumindest eine ernste Krankheit hat: die

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