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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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meine Mutter gern gesehen hätte.
Statt dessen ging ich ein Jahr auf ein Sekretärinnenseminar und stellte bald
fest, daß ich für diesen Beruf ausgesprochen geeignet war. Noch vor der Prüfung
hatte ich drei Stellen in Aussicht und nahm schließlich das Angebot der Oxford
University Press an, Sekretärin bei einem der Verlagsmitarbeiter zu werden, der
meinen Vater flüchtig gekannt hatte. Er war ein sehr netter Chef und ein sehr
gescheiter Mann, und die fünf Jahre, die ich bei ihm verbrachte, waren die
glücklichsten meines Lebens. Er war Junggeselle, und nach einem Jahr lud er
mich gelegentlich zum Essen oder ins Theater ein. Er hat nie versucht, mich
auszunutzen. Körperliche Kontakte hatten wir nur, wenn er mich einhakte, um
mich zu seinem Wagen zu führen. Trotzdem verliebte ich mich in ihn — völlig
hoffnungslos, wie ich dachte. Dann geschah zweierlei innerhalb weniger Tage.
Mein Chef machte mir einen Heiratsantrag, und der Zustand meiner Mutter
verschlechterte sich. Ob da ein Zusammenhang bestand, kann ich nicht sagen. Ich
hatte ihr von dem Heiratsantrag erzählt, und sie hatte mir in ihrer typischen,
unverblümten Art gesagt, was sie davon hielt. Er sei nur ein geiler alter Bock
auf der Suche nach risikolosem Sex. Und dann der Altersunterschied...
lächerlich! Ich solle mir einen netten jungen Mann in meinem Alter suchen — falls
ich mich tatsächlich entschlossen hätte, sie in einem Heim für chronisch Kranke
verkümmern zu lassen. Sie steigerte sich in Hysterie hinein. Im Rückblick ist
mir klar, daß es vielleicht nicht fair war, daran zu zweifeln, daß die
Nachricht ihr einen echten Schock versetzt hatte. Jedenfalls sagte mir der
Arzt, es ginge ihr sehr schlecht, und sie müsse sofort ins Krankenhaus. Als
meine Mutter entlassen wurde, brauchte sie täglich intensive Pflege. Ich sagte
meinem Chef, ich könnte seinen Antrag nicht annehmen, und es sei unter diesen
Umständen wohl besser, wenn ich kündigte. Ich sehe noch den Ausdruck kindlichen
Kummers und tiefer Enttäuschung in seinen Augen. Drei Wochen später, an meinem
letzten Arbeitstag, lud er mich zu einem phantastischen Essen im Elizabeth ein und plauderte den ganzen Abend sehr vergnügt. Als er mich nach Hause
brachte und wir uns im Wagen recht befangen voneinander verabschiedeten, wandte
ich mich zu ihm um und gab ihm einen langen, liebevollen Kuß auf den Mund. Von
da ab zog ich mich in mein Schneckenhaus zurück, so wie es meine Mutter getan
hatte. Sicher bin ich meiner Mutter sehr viel ähnlicher, als mir lieb ist.
Außerdem hatte Mutter wohl recht gehabt. Als ich meine Stellung aufgab, war ich
vierundzwanzig, mein Chef neunundvierzig. Wir liefen uns danach noch ein- oder
zweimal zufällig über den Weg, stellten uns die üblichen höflichen Fragen und
trennten uns wieder. Er hat nicht geheiratet. Zwei Jahre später starb er an
einer Gehirnblutung, ich war auf seiner Beerdigung. Wenn ich zurückblicke,
bedaure ich es gar nicht einmal so sehr, daß ich ihn nicht geheiratet habe,
aber es wird mir immer leid tun, daß ich ihm nicht den Vorschlag gemacht habe,
seine Geliebte zu werden. Das mag irrelevant erscheinen, aber ich erwähne es,
weil ich hoffe, daß vielleicht doch jemand versteht, warum alles so
schiefgegangen ist —nicht etwa, weil ich meine Rolle in der bösen Geschichte,
die nun ihren Anfang nahm, rechtfertigen will.
    Ich muß nun über Geld sprechen. Nachdem mein
hübsches Gehalt wegfiel, mußten wir unsere finanzielle Situation ernsthaft
überdenken, und meine Mutter meinte, ich hätte ja Wirtschaftskunde gelernt und
müsse daher eine Expertin, ja ein Zauberkünstler in Gelddingen sein. Bald hatte
ich einen genauen Überblick über unsere Lage, und nicht lange danach gab meine
Mutter bereitwillig die ganze Verantwortung an mich ab. Das Haus war keine
Belastung, denn mein Vater hatte eine kombinierte Hypothek und
Lebensversicherung darauf aufgenommen. Es war für zwei Personen viel zu groß,
aber der Marktwert lag jetzt etwa zehnmal höher als vor fünfundzwanzig Jahren,
als Vater es gekauft hatte, und nach seinem Tod gehörte es uns. Zu dem
Zeitpunkt, von dem ich spreche, besaß meine Mutter außerdem Aktien im Wert von
etwa 2000 Pfund, und ich hatte ungefähr 800 Pfund auf einem Sparkonto bei
Lloyds. Außerdem bezog meine Mutter eine kleine Witwenpension, und ich bekam
einen staatlichen Unterhaltszuschuß. In den nächsten zehn Jahren erledigte ich
Schreibarbeiten zu Hause, meist Dissertationen, Manuskripte

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