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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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hoffnungsvoller
Schriftsteller und dergleichen. Wir lebten also in recht angenehmen und vor
allem gesicherten Verhältnissen. Und dann kam vor zwei Jahren die
Wirtschaftskrise, und ich ließ mich überreden, die Aktien für noch nicht einmal
500 Pfund loszuschlagen. Hätte ich die Papiere nur noch ein halbes Jahr länger
behalten, wäre alles gut oder zumindest lange nicht so schlimm geworden, aber
damals fürchtete man überall einen neuen Schwarzen Freitag. Da die Kurse in den
folgenden Wochen immer weiter sanken, sah es zunächst so aus, als hätte ich es
besonders schlau gemacht, in Wirklichkeit aber war ich schlecht beraten worden
und steuerte auf eine Katastrophe zu. All das verschwieg ich meiner Mutter, was
nicht schwierig war. Sie hatte keinerlei Durchblick in Gelddingen. Mein Vater
hatte sein kleines Vermögen umsichtig verwaltet, er hätte meine Mutter nie
damit belastet, es wäre ihm wohl auch gar nicht recht gewesen, wenn sie zu
genau Bescheid gewußt hätte. Nach seinem Tod lag die Verantwortung auf meinen lange
nicht so starken Schultern, und meine Mutter glaubte, es sei alles in Ordnung.
Ich schämte mich meines Versagens zu sehr, um sie eines Besseren — oder
Schlechteren — zu belehren. Damals — ist das tatsächlich erst zwei Jahre her? —
beschloß ich, unser restliches Geld in eine meiner Meinung nach wirklich
sichere Investition zu stecken. Unser Haus war, wie gesagt, für zwei Personen
zu groß. Ich hatte mir nun ausgedacht, daß wir das Haus teilen sollten. Meine
Mutter und ich würden das Erdgeschoß behalten, den ersten Stock würden wir
einer anderen Familie überlassen. Die Diele konnte man so umbauen, daß die
Treppe zum Obergeschoß zu einer abgeschlossenen Wohneinheit führte. Badezimmer
und Toilette waren ohnehin im Obergeschoß, und so brauchten oben nur noch eine
Küche, unten ein kleines Bad und eine zweite Haustür eingebaut zu werden, damit
keine gemeinsamen Schlüssel und keine gemeinsame Klingel nötig waren und die
Post nichts durcheinanderbringen konnte. Ein Bekannter aus St. Frideswide’s
(ja, darauf komme ich jetzt gleich zu sprechen) zeichnete mir einen hübschen
Plan, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß keine Baugenehmigung
erforderlich war, ließ ich mir Kostenvoranschläge machen. Sie erschienen mir
alle erstaunlich hoch. Aber ich rechnete noch einmal nach und kam zu dem
Schluß, daß wir es mit dem niedrigsten, der bei 1500 Pfund lag, gerade schaffen
würden. Ich traf also alle Vorbereitungen, und wenige Monate später begannen
die Bauarbeiten. Zunächst ging alles gut. Und dann erhielt im Februar letzten
Jahres meine Mutter einen Brief von einer alten Bekannten, die von einer auf
die Behandlung und Pflege von Multipler Sklerose spezialisierten Klinik in der
Schweiz gehört hatte. Die Klinik versprach keine Wunderheilungen, aber
zufriedene Patienten berichteten begeistert über ihren Aufenthalt dort, und der
Prospekt, der dem Brief beilag, enthielt genaue Angaben über die dreiwöchige
Kur und schöne bunte Bilder der Klinik mit Blick auf den Thuner See,
schneebedeckte Alpengipfel und Steinbrech und Edelweiß an den Hängen. Die drei
Wochen kosteten 630 Pfund, einschließlich Hin- und Rückflug von Heathrow nach
Basel und Fahrt zur Klinik und zurück. Noch nie zuvor hatte ich begriffen, was
für ein Tyrann das Geld sein kann. Wenn ich es hatte, konnte meine Mutter reisen,
wenn nicht, mußte sie zu Hause bleiben.
    Preisnachlässe nach Verdienst oder Bedürftigkeit
gab es nicht. Ich betrachtete die Chancen einer Heilung meiner Mutter ohnehin
skeptisch, aber die Klinik hatte einen guten Ruf, und die Reise würde meiner
Mutter guttun. Sie hatte seit fast eineinhalb Jahren nicht das Haus verlassen,
und oft war sie so lustlos, daß sie sich nicht einmal die Mühe machte, aus dem
Bett in ihren Rollstuhl zu wechseln. Jetzt hatte sie zum erstenmal seit Jahren
selbst eine Entscheidung getroffen. Sie wollte in die Schweiz, und sie freute
sich darauf. Sie reiste. Obgleich ich in den drei Wochen so intensiv und so
lange ich konnte arbeitete — tagsüber als Aushilfssekretärin, abends als
Bedienung — fand ich die Zeit anregend und hatte wieder ein bißchen Freude am
Leben. Aber die Dinge liefen nicht gut. Die Baufirma stieß auf unerwartete
Schwierigkeiten und schrieb, wenn die Arbeiten ordentlich ausgeführt werden
sollten, müsse der Kostenvoranschlag um 3 50 Pfund erhöht werden. Die Rückkehr
meiner Mutter machte die Sache natürlich nicht besser, und als

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