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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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letzte.»
    Hm. So unrecht hatte der Mann natürlich nicht.
    Lewis kam wieder herein. Draußen war alles
bereit. «Alles in Ordnung, Sir?»
    «Hören Sie bloß auf», sagte Morse.
    Ruth Rawlinson saß noch auf der hintersten Bank
der Marienkapelle und sah mit leerem Blick vor sich hin. Gefaßt, schweigend,
passiv.
    «Ich bringe sie nach Hause», sagte Lewis leise.
«Wenn Sie...»
    Morse atmete schwer und wandte den Blick ab.
«Sie kann nicht nach Hause. Sie müssen mit ihr ins Präsidium. Sie ist
verhaftet, und ich möchte, daß Sie persönlich ihre Aussage zu Protokoll nehmen.
Ist das klar?» fragte er mit unerklärlichem Zorn in der Stimme. «Sie
persönlich.»
    Stumm und widerstandslos ließ sich Ruth von
einem der Constable zum Streifenwagen fuhren. Morse, Lewis und der Polizeiarzt
folgten.
    Die Menge, die jetzt in einem drei bis vier Mann
tiefen Kreis die verhüllte Gestalt umstand, sah ihnen voller Spannung entgegen
— wie den Hauptdarstellern eines Stückes, die soeben die Bühne betraten. Da war
der Kleine, Bucklige, der ganz so aussah, als hätte er 1555 ungerührt Zusehen
können, wie vor dem nur wenige hundert Meter entfernten Balliol College die
Märtyrerbischöfe Ridley und Latimer verbrannt wurden. Der Vierschrötige mit dem
sanftmütigen Gesicht, der bisher alle Anweisungen gegeben hatte, aber jetzt
fast unmerklich in den Hintergrund trat, als habe ein Höherer das Kommando
übernommen. Und schließlich der Schlanke, Blasse mit dem sich lichtenden Haar
und den durchdringenden Augen, dessen düstere Miene angeborene Autorität
verriet.
    Zu dritt traten sie zu dem Toten.
    «Wollen Sie ihn sehen, Morse?» fragte der Arzt.
    «Von dem hab ich schon genug gesehen», murrte
der.
    «Sie brauchen keine Angst zu haben, das Gesicht
ist in Ordnung.»
    Er streifte die Soutane zurück, und Lewis besah
sich das Gesicht des Toten aufmerksam.
    «So hat er also ausgesehen, Sir.»
    «Wie meinen Sie?» fragte Morse.
    «Lawsons Bruder, Sir. Ich sagte—»
    «Das ist nicht Lawsons Bruder», sagte Morse so
leise, daß die beiden anderen es nicht zu hören schienen.

Das Buch Ruth

38
     
    Aussage von Miss Ruth Rawlinson, Manning Terrace
14 A, Oxford, diktiert von Miss Rawlinson, von ihr unterschrieben, beglaubigt
von Sergeant Lewis, Thames Valley Constabulary,
     
     
    Es ist vielleicht einfacher, wenn ich vor
zwanzig Jahren anfange. Damals war ich im ersten Jahr der Oberstufe an der
Oxford High School und bereitete mich auf den Abschluß in Englisch, Geschichte
und Wirtschaftskunde vor. Eines Morgens kam die Direktorin in die Klasse und
bat mich heraus. Ich müsse jetzt sehr tapfer sein, sagte sie, sie habe eine
traurige Nachricht für mich. Mein Vater, der als Drucker bei der Oxford
University Press arbeitete, hatte einen Herzinfarkt erlitten und war eine
Stunde nach seiner Einlieferung ins Radcliffe Infirmary gestorben. Ich weiß
noch, daß ich eigentlich nur betäubt und nicht richtig traurig war. In den
nächsten Tagen war ich fast ein bißchen stolz, weil die Lehrerinnen und die
anderen Mädchen mich so nett behandelten wie sonst nie, als wäre ich eine
Heldin, die ihr Mißgeschick mit großer Seelenstärke trägt. Dabei stimmte das im
Grunde gar nicht. Ich hatte nichts gegen meinen Vater, aber wir waren uns nie
sehr nahe gewesen. Ein flüchtiger Kuß vor dem Schlafengehen, und manchmal eine
Pfundnote, wenn ich eine gute Arbeit geschrieben hatte — aber er hatte nie
erkennen lassen, daß er sich für mich interessierte oder mich gar liebte. Vielleicht
konnte er nichts dafür. Bei meiner Mutter war Multiple Sklerose festgestellt
worden, und obgleich sie damals noch recht beweglich war, galt meines Vaters
erste Sorge ihrem Wohlergehen und ihrer Zufriedenheit. Er muß sie sehr geliebt
haben, und sein Tod war ein furchtbarer Schlag für sie. Fast über Nacht schien
sie sich verändert zu haben. Es war, als könne die Frau, die sie gewesen war,
einen so schmerzlichen Verlust nicht verkraften und müsse deshalb zu einem
anderen Menschen werden. Auch ich veränderte mich. Ich hatte plötzlich keine
Freude mehr an der Schule und konnte für meine Mutter keinerlei Zuneigung mehr
aufbringen. Ich hatte den Verdacht, daß sie ihre körperliche Behinderung
übertrieb. Daß ich für sie kochte und wusch und putzte und einkaufte, nahm sie
immer mehr als Selbstverständlichkeit hin. Ich blieb zwar an der Schule und
machte im Jahr darauf meinen Abschluß, bewarb mich aber nicht um einen
Studienplatz, obgleich das sonderbarerweise

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