Eine Mittelgewichts-Ehe
erinnerte sich, von Katrina Marek gehört zu haben, aber sie kann sich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben. »War sie groß?« fragte sie Severin. »Eine Blondine, ja! Ich erinnere mich. Sie hatte ein sehr schmales Gesicht ...«
»Sie war klein und dunkel«, sagte Winter, »und ihr Gesicht war so breit wie deins.«
Aber er konnte sich Hauptmann Kudaschwili auch nicht vergegenwärtigen, obwohl er schwört, daß er den Namen jeden Tag gehört hat. »Ja, natürlich, der Kudaschwili. Er war der Blockwart, der General der Schwindgasse. ›Paß bloß auf, benimm dich bloß‹, sagten die Mütter immer zu einem, ›sonst kommt dich der Kudaschwili holen.‹ Aber ja doch, er war blonder als der deutscheste Deutsche, er war so dick wie ein russischer Bär. Er hat Schuhe mit Plateausohlen getragen.«
»Das hat er nie«, sagte Utsch. »Er war groß und schlank, mit einem langen, traurigen Gesicht und einem Schnurrbart wie schwarze Wolle. Seine Augen waren graublau, wie ein Revolver.«
»Ach, der!« rief Severin Winter. »Natürlich erinnere ich mich an ihn.« Aber das tat er nicht; es war bloß wieder sein gescheiter Zahn, der da sprach.
Aber warum konnten sie sich nicht erinnern? Kinder waren rar. Schon wegen ihrer Seltenheit müssen alle Kinder einander angeschaut haben. Kinder starren einander an - selbst heute noch, wo es so viele gibt.
»Damals war ein großes Vergessen im Gange«, sagte mir Utsch.
Ja, und sie war kräftig daran beteiligt. Ihr muß unwohl gewesen sein beim Gedanken an die Beschäftigung ihres Vormunds und Hauptmanns. Drexa machte es ihm auch nicht gerade leichter. Kudaschwili erlaubte ihr, mit Utsch und ihm zu Abend zu essen, trotz Drexas Geschwafel.
»Tja, Herr Hauptmann, Sie müssen davon gehört haben«, sagte Drexa etwa. »Der alte Gortz ist weg - der Ersatzteilladen oben in der Argentinierstraße? Er gehörte ihm seit Jahren.«
»Gortz?« sagte Kudaschwili; sein Deutsch war besser, als er zugab.
»Einfach verschwunden«, sagte Drexa. »Über Nacht. Seine Frau ist aufgewacht, und das Bett war leer. Sie ist aufgewacht, weil ihr plötzlich kalt war.«
»Die Männer sind erbärmliche, schwache Geschöpfe, Drexa«, sagte Kudaschwili. »Du mußt einen guten heiraten, wenn du nicht willst, daß er durchbrennt.« Und zu Utsch sagte er: »Du wirst Glück haben. Du wirst nie jemanden heiraten müssen, ehe du nicht willst.«
»Ja, Utschka wird einen Zaren heiraten!« gackerte die alte Drexa. Sie wußte, das war das alte Rußland, aber sie mochte es, wenn der Hauptmann sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
»Die Zaren sind verschwunden, Drexa.«
»Ja, mein Hauptmann, genau wie Gortz.«
»Du mußt gewußt haben, was los war«, sagte Severin einmal zu Utsch.
»Ich wußte auch, was vorher los war«, antwortete Utsch.
»Also was ist der Unterschied zwischen einer Gestapo und der anderen?« fragte Winter.
»Kudaschwili hat sich gut um mich gekümmert«, sagte sie.
Wir saßen eines späten Abends nach dem Essen in unserem Wohnzimmer. Es war oft peinlich, wenn wir alle vier versuchten, ein Gespräch zu führen; mittlerweile war es so, daß Edith sich mit mir unterhielt und Utsch mit Severin. Trotzdem, wenn so etwas je funktionieren soll, dann muß man es als Beziehung zwischen vier Menschen, und nicht zwei Paaren, auffassen. Der springende Punkt war, keine Heimlichkeiten zu haben, aber es war Severin, der uns vieren nie eine Chance gab. Er war entweder mürrisch und sagte nichts, oder er erging sich mit Utsch in diesen langen Tiraden über die Familiengeschichte und erwartete, daß Edith und ich zuhörten. Ihm war unwohl, also versuchte er zu erreichen, daß auch uns unwohl war. Manchmal, bei ihnen zu Hause, kam er unmittelbar nach dem Essen an und hielt Utsch den Mantel hin, mitten in einem recht entspannten Gespräch. Er sagte plötzlich zu ihr: »Los, komm, wir halten sie davon ab, über ihre Schriftstellerei zu reden.« Und auch das war, auf sein Betreiben, eine Gewohnheit: irgendwie brachte er immer Utsch nach Hause oder blieb mit ihr bei uns zu Hause, und ich endete mit Edith bei ihnen zu Hause. Er machte eine preußische Routine aus unserer Beziehung und machte sich dann darüber lustig, daß es eine Routine war! »Anstrengend«, sagte er eines Nachts, als uns dreien sehr bewußt war, daß er den ganzen Abend kein Wort gesagt hatte. »Wir schinden bloß Zeit, ehe wir ins Bett gehen. Warum nicht die Esserei vergessen und ein bißchen Geld sparen?«
Also versuchten wir es ein paarmal, und
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