Eine Mittelgewichts-Ehe
gespielt. Severin hatte Utsch in aller Stille nach Hause gebracht, und Edith und ich hatten plötzlich festgestellt, daß wir nicht bloß im Wohnzimmer allein waren; wir waren im ganzen Haus allein. Später behauptete Utsch zu meiner Überraschung, daß es keineswegs so angefangen habe. Laut ihrer Version hatten sie und Severin sich in der Küche unterhalten, und als sie ins Wohnzimmer zurückgekommen seien, um sich zu uns zu setzen, hätten sie entdeckt, daß wir nach oben gegangen waren, und erst da habe Severin Utsch nach Hause gebracht.
Was soll's? Ich sah mir alles in ihrem Schlafzimmer an. Ich wollte Kleider herumliegen sehen, aber da war nichts. Da waren Bücher (Utsch und ich lesen nie im Bett) und Anzeichen dafür, daß häufig Kerzen abgebrannt wurden - ein paar hartgewordene Kleckse stumpfen, farbigen Wachses auf der Fensterbank. Ich war überrascht, daß Edith spielerisch war, als ich sie auszog; das sah ihr so gar nicht ähnlich, und ich hatte das Gefühl, daß sie sich mit Severin im Bett ein bißchen balgte. Ich balgte mich nicht. Erst als ich neben ihr auf Severins hohem Barockbett lag, sah ich die gottverdammten Gemälde und Zeichnungen überall an den Wänden - die erotische Mitgift, die Kurt Winter seiner Frau auf ihre Reise nach London mitgegeben hatte. So neu und erregend Edith auch für mich war, ich mußte diese verdammten Gemälde ansehen; niemand hätte aufhören können, sie anzusehen. Damals kannte ich die vollständige Geschichte von Kurt Winter noch nicht; Edith und ich hatten uns meistens über uns selbst unterhalten. »Teufel nochmal!« sagte ich. »Wer ...« Ich meinte, wer sie gemalt hatte, aber Edith nahm an, ich meinte das Modell.
»Das ist Severins Mutter«, sagte sie. Ich dachte, das sei ein Scherz, und versuchte zu lachen, aber Edith bedeckte mein Gesicht mit ihrem leichten Körper und blies die Kerze aus, damit ich an diesem Abend nichts mehr von seiner Mutter zu sehen bekäme.
Wir Verfasser historischer Romane haben eine leichte Macke, was die Was wäre wenn dieser Welt angeht. Was, wenn Utsch und Severin einander in jenen frühen Jahren begegnet wären? Was, wenn ihr Vormund Katrina Marek begegnet wäre? (Eines Nachts in der Schwindgasse, nach Beginn der Ausgangssperre, als Severins Mutter Arm in Arm mit einem ihrer bewundernden Maler unterwegs war, der stets Gentleman genug war, sie nach Hause zu begleiten, wenn er sie bis lange nach Einbruch der Dunkelheit gemalt hatte. Unter den Lampen bei der bulgarischen Botschaft hätte Kudaschwili sie mit seinem traurigen Dienstgesicht angehalten. »Ihre Papiere, bitte?« hätte er vielleicht gefragt. »Sie müssen besondere Papiere haben, wenn Sie nach Beginn der Ausgangssperre unterwegs sind.« Und der Maler hätte nach Leinwandstreifen, feuchten Pinseln, anderen Erkennungszeichen gekramt. Und Kudaschwili - höflich, nach allem, was ich von ihm gehört habe - hätte Katrina gebeten, ihren braunen Bisampelzmantel zu öffnen. Wer weiß, wie der Lauf der Geschichte hätte verändert werden können?)
Aber Utsch und Severin begegneten einander in jenen Jahren nicht. »Das ist sowieso eine spinnerte Idee von dir«, sagte mir Utsch einmal. »Ich meine, wenn wir uns begegnet wären, hätten wir einander wahrscheinlich nicht gemocht. Du setzt zuviel voraus.« Vielleicht.
Es ist klar, daß sie unterschiedliche Leben führten. Im März 1953, zum Beispiel, nahm Utsch an einer Totenfeier teil. Severin war nicht dort. Es war eine Gedenkfeier; der Leichnam war nicht in Wien. Sie erinnert sich an die tiefempfundene Traurigkeit des sowjetischen Armeechors und an Kudaschwilis Weinen; viele Russen weinten, aber Utsch glaubt bis auf den heutigen Tag, daß Kudaschwili mehr um dessentwillen weinte, was immer der sowjetische Armeechor in ihm hervorrief, als um den Verblichenen. Sie selbst vergoß keine Träne. Sie war fünfzehn und hatte bereits den Ansatz des Busens, der später so viele überwältigen sollte. Sie fand, Gedenkfeiern seien eine schöne Art zu sterben, wenn man die anderen Todesarten bedachte, die sie mitbekommen hatte.
Severin war ebenfalls fünfzehn; er ging mit seiner Mutter und den ehemaligen Olympiakämpfern aus Jugoslawien aus, und sie besoffen sich sinnlos und brüllten sich heiser vor Freude. An diesem Tag war die Möglichkeit gering, Utschs Pfade zu kreuzen. Obwohl es eine öffentliche und belebte Bierschenke war, ließ Katrina ihren Mantel während der Feier ein bißchen offenstehen. Es war das erste Mal, daß Severin so
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