Eine Mittelgewichts-Ehe
er schien die Kälte des Ganzen zu genießen. Ich kam nach dem Essen zu ihnen nach Hause, und er schlüpfte zur Hintertür hinaus, während ich vorne hereinkam. Oder wenn er zuerst zu uns nach Hause kam, saß er im Mantel herum und murmelte »Ja« und »Nein«, bis ich zu Edith ging. Dann zog er seinen Mantel aus, sagte mir Utsch.
Aber es mußte nicht so oder wie zu anderen Zeiten sein, wenn er es bewußt darauf anlegte, uns alle zu langweilen, und beim Essen einen Monolog vom Stapel ließ, den er hinterher im Wohnzimmer fortsetzte, einzig in der Absicht, uns alle zum Einschlafen zu bringen. Eines Nachts redete er so lange, daß Edith schließlich sagte: »Severin, ich glaube, wir sind alle müde.«
»Ach so«, sagte er. »Na, dann laßt uns Feierabend machen. Dann laßt uns ins Bett gehen«, sagte er zu Edith! Er gab Utsch einen Gutenachtkuß und schüttelte mir die Hand. »Dann ein andermal. Wir haben jede Menge Zeit, stimmt's?«
Ich erinnere mich an den endlosen Abend, der damit begann, daß er zu Utsch sagte: »Erinnerst du dich an den Aufruhr vor der griechischen Botschaft, 52?«
»Da war ich erst vierzehn«, sagte Utsch.
»Ich auch, aber ich weiß es noch ganz genau«, sagte Severin. »Eine Horde aufrührerischer Kommunisten griff die griechische Botschaft an; sie protestierten gegen die Hinrichtung von Belojannis.«
»Ich erinnere mich an keinen Belojannis«, sagte Utsch.
»Na ja, das war ein griechischer Kommunist«, sagte Severin, »aber ich rede von dem Angriff auf die griechische Botschaft in Wien. Die Sowjets erlaubten der Polizei nicht, einen bewaffneten Trupp zu schicken, um den Aufruhr zu zerschlagen. Das Komische war, daß die Aufrührer in russischen Armeelastwagen zur Botschaft gebracht wurden. Erinnerst du dich jetzt?«
»Nein.«
»Und noch komischer ist, daß die Sowjets die gesamte Polizei entwaffneten - jedenfalls in unserem Sektor. Sie nahmen ihnen sogar ihre Gummiknüppel ab. Ich habe mich immer gefragt, ob das Kudaschwilis Idee war.«
»Ich vergesse viel«, sagte Utsch.
»Genau wie Severin«, sagte Edith.
»Zum Beispiel?« fragte Winter sie.
»Deine Mutter.« Utsch und ich kauten schweigend, während Winter dreinschaute, als erinnere er sich.
»Was von meiner Mutter?« fragte er Edith.
»Ihr Modellstehen«, sagte Edith leichthin, »und die Tatsache, daß sie fast die ganze Zeit nackt war.«
»Natürlich erinnere ich mich daran!« blaffte er.
»Erzähl die Geschichte von ihrem Mantel und dem Wachposten«, sagte Edith. »Die ist interessant.« Aber Severin machte sich wieder ans Essen.
Ich kenne die Geschichte, die Edith meinte. Am Wochenende, wenn Katrina Modell stehen ging, war Severin nicht in der Schule und mußte mitkommen. Er saß malend, zeichnend und knetend in verschiedenen Künstlerateliers, während der eigentliche Künstler versuchte, seine Mutter wiederzugeben. Eines der Ateliers lag im russischen Sektor, und das Gebäude hatte einen Wachposten. Es war üblich, dem Wachposten ein Trinkgeld zu geben, wenn er einen ins Foyer ließ, aber Katrina, die schon seit Jahren fast jeden Samstag hierherkam, gab nie jemandem ein Trinkgeld. Den kleinen Severin neben sich, näherte sie sich dem Wachposten. Der senkte seinen Knüppel und lächelte, und gerade als sie auf seiner Höhe war, riß sie bloß ein paar Schritte lang ihren braunen Bisammantel auf, bis sie an ihm vorbei war. »Heil Stalin!« sagte sie dabei.
»Guten Tag, Frau Winter!« sagte der Wachposten. »Guten Tag, Sevi!« Aber Severin gab ihm nie eine Antwort.
Ich glaube, Severin dachte zuviel über seine Mutter nach. Das erste Mal, als ich jene erotischen Zeichnungen und Gemälde sah, die Kurt Winter von ihr angefertigt hatte, war ich zugegebenermaßen verblüfft. Es war das erste Mal, daß ich mit Edith schlief. Sie nahm mich bei ihnen zu Hause mit nach oben; ich hatte den ersten Stock noch nie gesehen. Wir waren alle übereingekommen, wegen der Kinder sehr vorsichtig zu sein, deshalb gingen Edith und ich auf Zehenspitzen, und sie lugte in ihre Zimmer. Ich sah die Wäsche im Flur des ersten Stocks. Ich ging mir die Zahnbürsten im Badezimmer ansehen. Ediths Nachthemd hing hinter der Badezimmertür; ich rieb meinen Bart daran, wühlte meine Nase hinein. Ich sah eine offene Schachtel Hämorrhoidenzäpfchen (das waren bestimmt Severins). Ediths und Severins Schlafzimmer war dunkel und geschmackvoll. Sie zündete eine Kerze an; das Bett war aufgeschlagen. Seit einigen Tagen hatten wir alle vier in Gedanken damit
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