Eine Mittelgewichts-Ehe
betrunken wurde, daß er kotzte. Wie ich erfuhr, spielte der russische Radiosender den ganzen Tag Chopin.
Der Todesfall, der sowohl Freudenfeiern als auch Trauer hervorrief, war natürlich der Tod von Jossif Dschugaschwili - einem Georgier, besser bekannt als Joseph Stalin -, der, wo wir gerade von den Was wäre wenn reden, selbst eine von einer Horde von Was wäre wenn umstellte Gestalt war.
Was, wenn Utsch zum Beispiel nach Rußland gegangen wäre? Und wenn die Erde flach wäre, wie der Dichter sagt, würden die ganze Zeit Leute herunterfallen. Der Dichter weiß, daß die ganze Zeit Leute herunterfallen, so wie die Dinge liegen, und einer davon war Hauptmann Kudaschwili. Bestimmt hatte er die Absicht, Utsch zu adoptieren und sie in die Sowjetunion mitzunehmen. Aber wir Verfasser historischer Romane sind uns bewußt, wie wenig gute Absichten gelten.
Kudaschwili und die Besatzungskräfte der sowjetischen Armee verließen Wien 1955. Der Tag, an dem sie abrückten, heißt in Österreich heute Tag der Fahne; sehr wenige Wiener trauerten ihnen nach. Utsch war siebzehn; ihr Russisch war ausgezeichnet; ihr Deutsch war das der Muttersprachlerin; sogar ihr Englisch machte, auf Kudaschwilis Anregung hin, Fortschritte. Er traf Vorbereitungen, damit sie Russin werden konnte. Er meinte, sie solle Übersetzerin werden, und wenn Deutsch auch nützlich war, Englisch war verbreiteter. Er schrieb ihr aus Rußland und schloß seine Briefe mit den Worten: »Was macht Utschkas Englisch?« Sie wollten in der großen Stadt Tiflis leben, und sie könnte auf eine Universität gehen.
Utsch war aus der Wohnung in der Schwindgasse ausgezogen, aber ihre Wäsche brachte sie - unter erheblichen Umwegen - immer noch zu der alten Drexa Neff. In dem neuen Studentenheim in der Krügerstraße war Utsch glücklich, denn zum erstenmal kannten die Leute sie nicht als Kudaschwilis »irgend so was« oder als russische Spionin. Sie brauchte ungefähr drei Monate nach Abzug der Russen, um festzustellen, daß sie für andere Leute attraktiv war. Sie stellte fest, daß es beneidenswert war, Brüste wie ihre zu haben, daß sie aber noch lernen mußte, was sie mit ihnen anfangen konnte, und daß ihre Beine das Bäuerischste an ihr waren und sie lernen mußte, wie sie sie verbergen konnte. Daß sie die Oper und die Museen mochte, ist Kudaschwilis Verdienst; daß ihre Kleider seltsam waren, ist wahrscheinlich seine Schuld. Sie galt als die mit Abstand beste Schülerin an der Sprachschule, die damals der Diplomatischen Akademie angeschlossen war, aber zuweilen, zwischen Briefen von Kudaschwili, wünschte sie, ihre Zweitsprache wäre Englisch oder Französisch anstatt Russisch. Am liebsten ging sie allein in Wien spazieren; ihr wurde klar, daß ihr Bild vom eigentlichen Aussehen der Stadt davon geprägt war, daß sie sie stets in Begleitung der Benno-Blum-Bande gesehen hatte. Die vermißte sie nicht, insbesondere nicht ihren letzten Begleiter, einen kleinen, kahlköpfigen Mann mit einem Loch in der Wange. Es sah aus wie ein unmöglich großes Einschußloch, außer daß auf der anderen Seite etwas hätte austreten müssen, falls es ein Einschuß gewesen wäre. Es war ein Krater von der ungefähren Größe eines Tischtennisballs, wie eine zusätzliche Augenhöhle unter einer der eigentlichen Augenhöhlen des Mannes. Es war grauschwarz-rosa an den Rändern und durchaus tief, so daß man sozusagen nicht den Grund sehen konnte. Kudaschwili hatte ihr erzählt, der Mann sei während des Krieges mit einer Bohrmaschine gefoltert worden und das Loch in seiner Wange sei nur eine langsam heilende Wunde von mehreren.
Seit sie ihre Freiheit neu gewonnenen hatte, las Utsch mehr als die kommunistisch finanzierte Zeitung. Jede Woche war etwas über Benno Blums Bande drin; jede Woche erwischten sie einen weiteren von den alten Hasen. Bennos Jungs besaßen eine Popularität, die nur von den zutage geförderten Henkern und Experimentatoren aus den Todeslagern übertroffen wurde. Sie hegte keine große Sehnsucht nach ihren früheren Beschützern.
Sie hatte Schuldgefühle, weil sie Kudaschwili nicht so sehr vermißte, wie sie geglaubt hatte, und machte ihre wöchentlichen Gänge zur sowjetischen Botschaft mit ein wenig Unbehagen, obgleich sie alle erforderlichen Einwanderungsformulare unterschrieb und viele Male den Schwur ablegte, daß sie Mitglied der Kommunistischen Partei sei. Zumindest vermutete sie das, aber ihr ging auf, daß sie um Kudaschwilis, nicht um ihrer selbst willen
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