Eine Mittelgewichts-Ehe
nach Rußland gehen würde. Das ist das Entscheidende bei Utsch: sie dachte nicht ein Mal, sie könnte nicht gehen. Kudaschwili hatte sie geliebt und die Verantwortung für sie übernommen. Er hatte sie nicht in Eichbüchl zurückgelassen, er hatte sie nicht bei jenen Kindern mit den ausdruckslosen Gesichtern im Waisenhaus zurückgelassen; sie stand in seiner Schuld.
Ich glaube nicht, daß Severin sich je klargemacht hat, was an Utsch außergewöhnlich war. Sie fand es vollkommen selbstverständlich, eine Schuld zu tilgen. Es war undenkbar, daß man es nicht tat; es war ungerechtfertigt sich zu beklagen. Und dieser Gedanke hat eine komplizierte Schwester: wenn man niemandem etwas schuldet, ist man frei. Mit siebzehn Jahren war Utsch nicht frei; mehr noch, für sie war das kein Anlaß zu Selbstmitleid. Sie war dabei, sich in Wien zu verlieben, aber wenn Kudaschwili bereit war, würde sie nach Rußland gehen.
Es waren die guten Leute von Budapest, die sie befreiten. Am 25. Oktober 1956 wurden die guten Absichten vieler Menschen zunichte gemacht. Die Ungarn fanden nicht, daß sie, weil Rußland sie von den Nazis befreit hatte, den Russen etwas so unvernünftig Großes wie ihr Land schuldeten. Der Aufstand in Ungarn muß für Utsch so etwas wie ein Wunder gewesen sein; aus ihrer eigenartigen Sicht muß die Vorstellung, »für die eigene Freiheit zu sterben«, wie schreckliche Hemmungslosigkeit gewirkt haben. Es muß sie verwirrt haben; die über die Grenze strömenden Flüchtlinge sahen fast nach einem weiteren Krieg aus. Nach Wien kamen, unaufgespießt von Stacheldraht und von den früheren Minenfeldern unzerrissen, einhundertsiebzigtausend Ungarn. Zwei Tage später, als Wien seinen ersten Tag der Fahne feierte, kamen sie immer noch tröpfchenweise herüber. Es war der erste Jahrestag des offiziellen Endes der Besetzung. Kudaschwili war seit einem Jahr wieder in Rußland.
In der Woche nach dem Tag der Fahne ging Utsch zur russischen Botschaft und stellte fest, daß alle ihre Einwanderungspapiere zurückgeschickt worden waren - abgelehnt. Sie fragte, warum, aber niemand wollte ihr irgend etwas sagen. Sie ging zum Studentenheim zurück und schrieb Kudaschwili. Sie hatte noch nicht von ihm gehört, als sie, weniger als eine Woche später, eine Nachricht von der russischen Botschaft erhielt, daß ein M. Maiskij sie sprechen wolle.
M. Maiskij führte sie zum Lunch in einen russischen Club in der Nähe des Grabens aus. Nach dem Fischgang erzählte er ihr die Neuigkeit. Hauptmann Kudaschwili war abkommandiert worden, bei den Unruhen in Budapest Beistand zu leisten, und während der nächtlichen Durchsuchung eines Universitätsgebäudes von einem achtzehnjährigen Heckenschützen erschossen worden. Utsch weinte mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung den Hauptgang und den Nachtisch hindurch. M. Maiskij holte ein Foto von Kudaschwili hervor. »Das ist für Sie, meine Liebe«, sagte er. Er holte außerdem den geringen Anteil von Kudaschwilis restlichem Sold hervor, von dem der Hauptmann verfügt hatte, daß er im Falle seines Ablebens an Utsch gehen sollte. Er belief sich auf viertausend österreichische Schilling oder hundertsechzig amerikanische Dollar. Maiskij durchblätterte eine dicke Akte, die Utschs Lebensgeschichte bis 1956 war. Er sagte, ihr Leben sei ein Musterbeispiel des Leidens unter dem Faschismus gewesen, was ihre Rettung durch Hauptmann Kudaschwili um so bedeutungsvoller mache - und seinen Tod um so tragischer. Aber er möchte, daß sie wisse, daß sie immer noch die Kommunistische Partei habe und irgendwann in der Zukunft nach Rußland gehen könne, wenn sie wolle. Sie schüttelte den Kopf; sie war verwirrt von der Vielzahl der Verwendungen, denen das Wort »Faschismus« zugeführt werden konnte. Die russische Botschaft, versprach Maiskij, würde ihr, so gut sie könne, helfen. Utschs Übersetzerfähigkeiten zum Beispiel: Wenn Russen in Wien seien, die einen Dolmetscher brauchten, werde er versuchen, sie in diesem Zirkel unterzubringen, »obwohl sie eine sehr mißgünstige und konkurrenzneidische Gruppe sind«, warnte er sie.
»Lassen Sie Ihr Englisch nicht einrosten«, sagte ihr M. Maiskij. »Genau das hätte er auch gewollt.« Utsch wußte, daß sie alle ihre Briefe gelesen hatten, aber sie wußte auch, daß ein wenig russisches Geld fürs Übersetzen hilfreich sein würde. Sie bedankte sich bei M. Maiskij für den Lunch und ging zum Studentenheim zurück, wo sie - fast allein - bis 1963 wohnte.
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