Eine Nacht in Bari
von denen man nicht weiß, ob sie von einer liebestollen Katze oder einem verzweifelt weinenden Baby stammen. Wir drehten uns alle um und lauschten mit den Augen. Der Schrei wiederholte sich jedoch nicht, und die Dunkelheit mit ihren langsamen, flüssigen, konzentrischen Kreisen beruhigte sich wieder.
Paolo rieb sich energisch das Gesicht mit den Händen, so, als wolle er etwas Klebriges abwischen. Dann sprach er, und diesmal schien er sich an uns zu wenden. Die Unterhaltung normalisierte sich ganz unerwartet.
»Ich sage euch, ich habe eine Menge Dinge entdeckt. Ist euch beispielsweise aufgefallen, hattet ihr je bemerkt, dass Bari die Form eines Adlers hat?«
»Ein Adler?«, fragte Giampiero.
»Ein Adler. Schaut euch die Karte an und ihr werdet es sehen. Die Halbinsel von Bari Vecchia ist der Kopf, und an den beiden Seiten sind ausgebreitete Flügel. Wenn man sich auf den Kopf konzentriert, kann man das gut erkennen. Ich könnte euch stundenlang Vorträge halten über das, was ich im Internet gefunden habe. Außerdem habe ich mir noch Bücher und Filme über Bari besorgt. Es ist ein Hobby geworden, oder eine fixe Idee. Das Verrückte daran ist, dass mir Bari vollkommen egal war, solange ich dort lebte, und dass ich heilfroh war, wegzugehen.«
»Erzähl uns von den Filmen und Büchern«, bat ich, indem ich den Rest ignorierte.
»Also, zum Beispiel gibt es einen Roman von Nero Wolfe …«
»Was sagst du da? Nero Wolfe, der von den Fernsehfilmen mit Tino Buazzelli?«
»Genau der. Es ist ein Roman von 1954, Nero Wolfe, der Spion. Es ist die einzige Geschichte, die nicht in Manhattan spielt. Nero Wolfe muss nach Montenegro fahren, und auf dem Weg dorthin kommt er nach Bari. Er wohnt in einem finsteren Loch, wo er natürlich trotzdem eine Möglichkeit findet, eines seiner Rezepte zuzubereiten.«
»Wie ist der Roman?«, fragte ich.
»Langweilig, aber ich muss dazusagen, dass ich keine Krimis mag. Aber es ist schon aufregend, die Beschreibung der Stadt zu lesen, die Rex Stout meiner Meinung nach nie besucht hat. Er beschreibt sie wie Kabul, oder Tiflis, alles außer einer westlichen Stadt im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Kennst du den Film von Clint Eastwood …«, wollte Giampiero wissen.
»Die Brücken von Madison County. Toller Film, und Meryl Streep, die hier Francesca heißt, sagt in dem Film, sie stamme aus Bari.«
Unter Paolos Leitung kommentierten wir eine Reihe von Filmen und Büchern, die in Bari spielten oder von Bari sprachen. Wir fingen bei Piovenes Italienische Reise an und landeten bald bei Filmen, die nicht alle unbedingt unvergessliche Meisterwerke waren. Gerührt erinnerten wir uns an einen schlechten Krimi, der in den Siebzigerjahren in Bari gedreht worden war, und mitten in dieser absurden Unterhaltung stand auf einmal ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann vor uns. Erst da wurde mir bewusst, dass wir mitten in der Nacht laut redeten und dass nur wenige Meter entfernt Häuser standen, in denen die Leute schliefen.
Ich weiß nicht, ob der Mann gerade nach Hause kam oder ob er von unseren Stimmen angelockt aus einer der Türen kam. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Er war kräftig, hatte einen frühen und ungeniert zur Schau gestellten Bauch, einen schwarzen Schnauzbart und sah aus wie jemand, der sich zu helfen weiß und nicht allzu subtil dabei vorgeht.
Er sah uns drei an und wandte sich dann an Paolo, der ihn zuletzt bemerkt hatte und immer noch redete, mit lauter, von Grappa beflügelter Stimme.
»N’t vrgogn”mbriac’a chess’età, mezz’ alla strad? Vattin’ a cas’t.« ( Schämst du dich nicht, in deinem Alter betrunken auf der Straße herumzusitzen? Geh nach
Hause .« Nicht gerade eine Huldigung.) Paolo sah ihn von unter her an, mit dem typischen Gesichtsausdruck eines Betrunkenen, dem etwas Unerwartetes passiert und der versucht, seine Gedanken zu ordnen und eine Handlungsstrategie zu entwickeln.
»Hör zu, lass uns in Frieden und geh selber nach Hause«, sagte er schließlich, nachdem er sich mühsam aufgerappelt hatte.
Der Typ war nicht erfreut; er antwortete wenig freundlich mit fäkalen Andeutungen und detaillierten Kommentaren zu Paolos Familienangehörigen. Den lebenden und den verstorbenen. Giampiero und ich standen auf, weil die Situation langsam brenzlig wurde. Paolo ging schwankend auf den Schnauzbart zu. Zu nahe.
Bei öffentlichen Streitereien gibt es Regeln und Rituale, und dazu gehört eine sehr genaue Definition des Sicherheitsabstands. Wenn dieser nicht
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