Eine Nacht in Bari
ihnen nach und kommt zu einem Grab, auf dem der Kamm liegt, den das Mädchen in der Hand hatte. Natürlich ist er neugierig, wer dort begraben ist – es gibt auch ein Foto -, und so liest er den Namen und die Inschrift. Und natürlich ist es das Foto des Mädchens, das genau vor einem Jahr bei einem Unfall an der Mautstelle Bari Nord gestorben ist.«
Diese Geschichte kannte ich schon. Mit kleinen Varianten – einmal war es ein kleines Mädchen, ein anderes Mal hatte sie eine Tasche oder einen Hut bei sich anstelle des Kamms -, aber die Geschichte ist immer die – selbe. Und immer war sie dem Freund eines Freundes passiert. Und obwohl man genau weiß, dass es sich
um eine moderne Wandersage handelt, die auch in anderen Städten im Umlauf ist, läuft einem unweigerlich ein Schauer über den Rücken, wenn sie einem erzählt wird.
Zur Belohnung nahm Paolo einen weiteren Schluck Grappa.
»Na, übertreibst du es nicht mit dem Zeug?«, sagte Giampiero.
»Mind your fucking own business.« Er sagte es, ohne sich umzudrehen, als spreche er zu sich selbst, mit einem Blick ins Leere. Sein Ton war kalt und fast schon verächtlich, und ich fühlte mich unwohl, obwohl die Worte nicht an mich gerichtet waren und Giampiero sie nicht verstand. Er war immer stolz darauf gewesen, nur Italienisch und den Bareser Dialekt zu sprechen und trotz zahlreicher Studienaufenthalte in England nicht kontaminiert worden zu sein.
»Was heißt das?«, fragte Giampiero mit dem unsicheren Lächeln desjenigen, der nicht weiß, wie er sich verhalten soll.
Paolo antwortete nicht und sprach weiter ins Leere, einer Spur von angstvollen, hin und her hüpfenden Gedanken folgend. Er war betrunken und zugleich merkwürdig klarsichtig. »Manchmal gehe ich auf Google und gebe Bari ein, zusammen mit einem anderen Wort, je nachdem, was mich gerade beschäftigt. Da entdeckt man eine Menge Dinge, zum Beispiel, dass die Basilika von San Nicola gebaut wurde, um den Heiligen Gral zu beherbergen, der angeblich dort in der Krypta versteckt ist. Einer anderen Legende zufolge soll in der Krypta von San Nicola
die Lanze von Longino versteckt sein, jenem Soldaten, der Jesus in die Rippen stach, als er am Kreuz hing.«
»Es gibt auch ein Comic-Heft von Martin Mystère, das diese Legende erzählt. Es heißt Das Geheimnis von San Nicola .«
»Das wäre doch ein Stoff für das nächste Buch von Dan Brown«, meinte Giampiero mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Ich sagte mir, dass Der Da Vinci Code vermutlich das einzige Buch war, das er gelesen hatte, großartig und spannend fand und womöglich sogar gut geschrieben. Gleich darauf bereute ich meine Boshaftigkeit. Mit fortschreitender Stunde empfand ich für Giampiero immer mehr Sympathie, was ich nicht ganz verstand. Um mein Unbehagen loszuwerden, fing ich wieder an zu reden. Über Legenden, esoterische Orte und jenes Geheimnis, das Paolo erwähnt hatte.
»Andere meinen, der Heilige Gral sei in einem unterirdischen Gewölbe von Castel del Monte versteckt«, sagte ich. Und fügte hinzu: »Und in deiner Freizeit recherchierst du im Internet über Bari?«
»Das passiert mir in letzter Zeit öfters. Ich weiß nicht, warum ich damit angefangen habe und warum ich weitermache. Nachts kann ich oft nicht schlafen, und wenn ich dann im Bett liege und mich nicht rühren kann, weil ich sonst meine Frau wecken würde, habe ich das Gefühl, verrückt zu werden. Manchmal ergreift mich Panik, als müsste ich gleich sterben. Dann stehe ich auf« – dann holst du dir was zu trinken, dachte ich automatisch, ohne meine innere Stimme zu beherrschen – »und lese, aber noch öfter surfe ich im Internet. Und so kam
es, dass ich immer mehr über Bari recherchiert habe. Ich habe mich richtig festgebissen und bin jetzt fast schon so etwas wie ein Heimatforscher. Das Absurde ist, dass ich heute mehr über die Stadt weiß als zu der Zeit, als ich hier lebte. Ich kenne sie jetzt, wo ich sie durch den Computer sehe, besser als damals, als ich täglich durch ihre Straßen ging.«
Genau dasselbe war mir an diesem Abend mit dem Navigator passiert. Die Straßen und die Stadt erschienen mir auf dem Bildschirm realer, als wenn ich jeden Tag durch diese Straßen ging, ihre Gerüche wahrnahm, ihre Geräusche hörte, ihre Mauern berührte.
Ich fragte mich gerade, ob es sich lohnte, das zu erzählen, oder ob ich es besser für mich behielt, da es wahrscheinlich sowieso keinen interessierte, als wir einen durchdringenden Schrei hörten. Einen dieser Schreie,
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