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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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Zuhause. Es war ein Grab. Und das Kind: Wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, der Junge habe tagelang dagestanden, ohne dass ich ihn bemerkt hätte? Dass er weinte, ohne dass ich ihn hochhob?«
    »Aber jetzt«, beharrte Jakob Markowitz, »jetzt siehst du gut aus. Warum kommst du nicht zurück?« Seev Feinberg seufzte. »Sobald ich nicht mehr umherziehe, wird alles wieder so werden wie gehabt.« Seev Feinbergs letzte Worte hörte Jakob Markowitz mit Ohrensausen. Sein bester, sein einziger Freund hatte die Moschawa und ihre Orangen, seine Frau und seinen Sohn verlassen, hatte ihn verlassen, um mit einer Pistole und einem kleinen Mädchen, zu dem er sich noch würde äußern müssen, durch Europa zu ziehen. Und er hatte nicht die Absicht, zurückzukehren.
    »Du bist kein Nomade, Feinberg, du bist ein Schuft. Suhlst dich in deiner Schuld und Trauer wie ein Schwein in der Schlammgrube und mutest den andern den Dreck und Gestank zu. Was ist mit Sonia? Was mit Jair? Und wer ist dieses kleine Mädchen, verflixt noch mal?«
    Seev Feinberg starrte verblüfft. Noch nie hatte er Jakob Markowitz so wütend gesehen. Einen Moment dachte er, sein Freund würde gleich mit den Fäusten auf ihn losgehen, hoffte es sogar, denn dann würde Markowitz endlich aufhören zu reden, und das Brenneisen seiner Worte wäre von ihm genommen. Aber Jakob Markowitz wurde nicht handgreiflich, auch wenn er es erwogen haben mochte. Schließlich konnte Seev Feinberg Jakob Markowitz’ Geschrei nicht mehr ertragen. Als er den Mund auftat, hallte seine Stimme durch die ganze Straße: »Wer bist du denn, Markowitz, dass du mich richten könntest? Du, der du in deinem Haus eine Frau einsperrst, die dich nicht lieben kann? Als ich merkte, dass ich nicht mehr lieben kann, bin ich gegangen. Was ist schlecht daran? Wer bist du, dass du darüber richten könntest?«
    Einige Anwohner lugten aus ihren Fenstern auf die beiden Männer, die sich in einer unbekannten Sprache anschrien. Jakob Markowitz wollte antworten, aber Seev Feinbergs Donnerstimme hatte die Kleine geweckt, die nun bitterlich weinte. Sie mussten die Straße fast vier Mal auf und ab gehen, bis das Kind wieder einschlief. Dabei wechselten sie kein Wort. Als sie endlich stehen blieben, begann Jakob Markowitz: »Du hast gefragt, wieso ich dich richten könnte. Glaub mir, Feinberg, es ist besser, ich richte dich, als dass du dich selbst richtest. Denn das hast du doch getan, nicht wahr? Du warst der Ankläger und der Richter, und einen Verteidiger gab es nicht. Du hast dich selbst eingesperrt und gegeißelt und verbannt. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu richten. Ich bin hergekommen, um dich zu befreien. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber keine Tat ist so furchtbar.«
    Seev Feinberg schwieg. Sie gingen noch ein paar Mal die Straße auf und ab, ehe sie in das einzige Gasthaus am Ort zurückkehrten. Dort angekommen, sagte Seev Feinberg »Gute Nacht« und ging hinauf auf sein Zimmer. Jakob Markowitz erwiderte »Gute Nacht« in Feinbergs Rücken und fragte sich, ob er seinen Freund am nächsten Morgen wiedersehen oder das Gasthaus beim Aufwachen leer vorfinden würde.
    Am nächsten Morgen blieb Seev Feinberg nach dem Aufwachen im Bett liegen. Er hatte erwartet, die Angst, die Schuld oder die Gewohnheit würden seine Beine aus dem Bett treiben, auf die Jagd, in ständigem Trab. Doch seine Beine blieben an Ort und Stelle. So lag er bis zum Mittag. Den Kameraden, die ihn abholen wollten, sagte er, seine Tour mit ihnen sei zu Ende. Er sei bereit, heimzukehren. Dann erst stand er auf und klopfte an Markowitz’ Tür. »Ich komm mit dir. Aber das Kind kommt auch mit uns.«
    Noch am selben Tag machten sie sich auf in die Stadt. Mit Jakob Markowitz an seiner Seite und dem Kind auf dem Arm ging Seev Feinberg zu einem Urkundenfälscher, der bei der Nazijagd wertvolle Hilfe geleistet hatte, und bat ihn, die erforderlichen Dokumente anzufertigen, damit er das Mädchen seine Tochter nennen könnte. Der Fälscher musterte ihn lange über seine Brille hinweg. Den ganzen Krieg über waren Juden mit ihren Kindern an der Hand bei ihm erschienen und hatten ihn mit flehenden Augen gebeten, ein Zauberkunststück zu vollbringen, irgendeinen Stempel aufzudrücken und diese Kleinen in Arierkinder zu verwandeln. Und nun erschien ein Jude mit einem gojischen Kind auf dem Arm und bat ihn, ein Zauberkunststück zu vollbringen, irgendeinen Stempel aufzudrücken und das Mädchen in eine Jüdin zu verwandeln? Seev Feinberg

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