Eine Nacht, Markowitz
zu eilig hatte, um mal zu fragen: Sag mir, Markowitz, wie hat dich Bella am Ende des Krieges empfangen? Und obwohl beide sich so ein langes, tiefschürfendes Gespräch herbeiwünschten, dankte doch auch etwas in ihrem Innern der Kleinen für ihre Störmanöver. Denn sobald sie ihr Weinen einstellte, müssten sie ja ihre Schmerzen und Leiden offenlegen und die Wunden des anderen besehen.
Je näher sie der israelischen Küste kamen, desto unruhiger wurde Jakob Markowitz. Nachts dachte er an Bella. Was würde sie bei seiner Rückkehr zu ihm sagen? Wenn sie überhaupt etwas sagte. Wie viele Worte konnte eine Frau doch schweigen. Er lag auf der Matratze und erinnerte sich an ihre Gleichgültigkeit bei seiner Heimkehr aus dem Krieg. Nein, verbesserte er sich, nicht Gleichgültigkeit. Es hatte sie ja sichtlich Anstrengung gekostet, ihn wie einen Fremden zu behandeln. Und solche Anstrengung zeugte sicher nicht von Gleichgültigkeit. Sie zeugte von Hass. Dieser Gedanke tröstete Jakob Markowitz ein wenig, denn er wusste sehr gut, dass nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit das genaue Gegenteil von Liebe ist. Viele Jahre lang waren die Menschen ihm gegenüber gleichgültig gewesen, und ihre Gleichgültigkeit hatte Tropfen für Tropfen seine Existenz ausgehöhlt. Aber Bellas Hass zehrte nicht an seiner Existenz, sondern stärkte sie sogar. Obwohl ihn Angst und Schrecken befielen, wenn er an das Steinhaus im Dorf dachte, war ihm Bellas glühender Hass doch lieber als der kühle, gleichgültige Blick all der anderen.
Während Jakob Markowitz’ Bedenken wuchsen, nahm auch Seev Feinbergs Aufregung zu. Bald würde er Sonia wiedersehen. Er wusste genau, wo er sie finden würde: am Strand. Damit beschäftigt, seinen Namen mit flammenden Worten und derber Sprache zu beschimpfen und zu verfluchen. Wenn er sie sich dort vorstellte, ganz und gar Streit und Zwist, spürte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Lust im Innern. Nur mühsam konnte er sich davon abhalten, Markowitz von Sonia zu erzählen. Er wollte den Freund nicht mit Schilderungen über das Wiedersehen zweier Liebender betrüben, wo Markowitz doch auf den eisigen Nordpol zusteuerte. Jakob Markowitz erwähnte Sonia ebenso wenig, weil er fürchtete, der Freund könnte ihn fragen, was seine Frau denn so mache, und dann wüsste er nicht, was er antworten sollte. So fuhren sie tagelang, der eine erwartungsvoll, der andere ängstlich, und die Erwartungen und die Ängste blieben in den Kehlen stecken, während die Worte so leicht hin und her schwirrten wie Seifenblasen: »Herrliches Wetter heute Morgen«, »Vielleicht sollten wir ihr noch ein Hemdchen überziehen«, »Sag mal, hat sie heute schon was gegessen?« und so weiter und so fort.
Doch vor Erreichen des Festlandes, als die Küstenlinie schon in den Morgennebeln auftauchte, knöpfte Jakob Markowitz sich Seev Feinberg vor und beharrte darauf, nun endlich das Geheimnis des Kindes zu erfahren. Die anderen Geheimnisse konnten warten, sie lagen ja tief in den Herzen verborgen. Aber die Kleine, sie ließ sich nicht ignorieren. Wo kam sie her? Warum hatte Seev Feinberg sie mitgenommen? Jakob Markowitz betrachtete sich dabei nicht als Schnüffler – nachdem er sie gewaschen und gewickelt und gefüttert und angezogen hatte, meinte er, ein Recht auf Auskunft zu haben. Seev Feinberg versuchte auszuweichen, klagte über Hunger und Durst und Schwindelgefühl, aber Jakob Markowitz ließ nicht locker. Als er begriff, dass er den Fragen des Freundes nicht entfliehen konnte, stützte Seev Feinberg sich mit beiden Händen auf die Reling und sagte: »Meine Cousine hat sie zur Welt gebracht, Frucht einer verbotenen Liebe zu einem jungen Deutschen. Die Mutter starb bei der Geburt. Der junge Mann verschwand. Aus Pflichtgefühl habe ich sie mitgenommen.« Als Seev Feinberg sich zu Jakob Markowitz umdrehte, erwartete er, ihn Tränen des Mitleids abwischen zu sehen. Stattdessen traf er auf einen kalten, fast spöttischen Blick: »Wenn du bei dieser Lüge bleiben willst, Feinberg, dann solltest du sie etwas besser einüben.«
Jakob Markowitz ging von Deck und legte sich auf sein Bett. Er ärgerte sich über seinen Freund, der ihm kein Vertrauen schenkte. Ärgerte sich über die Kleine, der er tagelang halb Mutter, halb Vater gewesen war, ohne ihre Identität zu kennen. Ärgerte sich über die Überfahrt, die zu Ende ging, über die Erkenntnis, jetzt nur noch heimkehren zu können. Nun, da die Kämpfe vorbei waren, keine Truppen mehr durchs
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