Eine Nacht, Markowitz
Stück Meer in der Ferne zu, und mit jedem Schritt wuchs Seev Feinbergs Aufregung. Je näher er dem Strand kam, desto lauter heulte ihm der Wind in den Ohren. Plötzlich meinte er, Sonias schimpfende Stimme durch den Wind zu hören. Er fing an zu rennen. Im Branden der Wellen glaubte er ihr kehliges, rollendes Lachen zu erkennen. Gleich würde er sie zu Gesicht bekommen. Gleich würde er sie dort stehen sehen. Eine kanaanitische Göttin mit strammen Schenkeln und stolz erhobenem Kinn. Und der Mund, danach hatte er sich ja am meisten gesehnt. Schießpulver und Schokolade. Ihre Zornesworte flitzen über das Wasser, runde, perfekte Kieselsteine. Sie weiß nicht einmal, dass er da ist. Dass er sich von hinten nähert. Sie steht mit dem Gesicht zum Meer und ahnt nicht, dass er diesmal von der Landseite zu ihr kommt, ahnt nicht die hinter ihrem Rücken ausgestreckten Arme, die sie jäh umschlingen werden, um ihre Schimpfkanonade mit einem Kuss zu beenden. Was würde sie überrascht sein. Wie würde sie sich freuen. Falls sie zürnte, würde er wieder auf die Knie fallen, wie damals, würde sie einen Regen von Schimpf und Schande über ihn ausschütten lassen, segensreichen Regen auf ausgedörrte Erde.
Doch als Seev Feinberg den Strand erreichte, fand er ihn menschenleer vor. Möwen flatterten auf. Krebse flüchteten in ihre Gänge. Einen langen Moment stand Seev Feinberg stumm an der Wasserlinie – aber dann drehte er sich abrupt um und ging denselben Weg zurück. Wie dumm, zu glauben, Sonia würde hier auf ihn warten. Sie war heute ja kein junges Mädchen mehr, sondern Mutter eines Kindes, und Kinder konnten nicht tagelang so am Strand warten. Sie mussten essen, spielen, baden und schlafen. Je mehr Seev Feinberg darüber nachdachte, desto klarer sah er seinen Irrtum ein. Nicht am Strand würde er Sonia finden, sondern in seinem Haus. In ihrem gemeinsamen Haus. In der Küche würde sicher wieder der vertraute Geruch nach angebranntem Brot hängen und nach der Marmelade, die sie gekocht hatte, um den Brandgeruch zu tarnen. Die Bettlaken würden nach Orangen duften. Und Jair. Wie der Junge sicher gewachsen war. Er würde sich vorsehen müssen, ihm bei der Umarmung nicht die kleinen Knochen zu brechen. Bei diesem Gedanken verfiel Seev Feinberg in Laufschritt. Er war so ungeduldig, endlich anzukommen.
Aber als er am Haus ankam, fand er es verschlossen vor. Minutenlang stand er vor verschlossener Tür, bis ihn Chaja Nudelmann aus ihrem Haus gegenüber entdeckte.
»Feinberg! Du bist zurück! Sahava – schau mal, wer da ist!«
Seev Feinberg seufzte. Wie hatte er gehofft, das erste Gesicht, das er in der Moschawa sehen würde, wären Sonias geliebte Züge, und nun musste er es zunächst mit einer Heerschar wissbegieriger Nachbarinnen aufnehmen. Ehe er noch einen guten Fluchtplan parat hatte, sah er sich von Frauen umringt. Es schien, als hätten sich sämtliche Türen der Moschawa aufgetan, außer die seines eigenen Hauses. Chaja Nudelmann und Sahava Tamir und Lea Ron – alle wollten sie den heimgekehrten Wanderer begrüßen. Und als sie das Kleinkind auf seinen Armen entdeckten, schlug ihr freundliches Interesse – dem von Anfang an ein Quäntchen Neugier beigemischt gewesen war – in eine regelrechte Attacke um. »Wer ist das denn?« »Wie heißt sie?« »Wo kommt sie her?« Seit Jakob Markowitz’ Rüffel hatte Seev Feinberg seine Geschichte ausgefeilt und aufpoliert, und jetzt beantwortete er die Fragen der Frauen völlig sicher: Er habe das Mädchen in einem Waisenhaus in Deutschland gefunden. Die Eltern seien Juden gewesen. Er habe es nicht übers Herz gebracht, sie dort ihrem Schicksal zu überlassen. Diesmal fand seine Erklärung großen Anklang, sei es, weil sie sich glaubhafter anhörte, sei es, weil die Frauen ihren Teil Information erhalten hatten und es ihnen egal war, ob die Sache stimmte oder nicht. Als Seev Feinberg all ihre Fragen beantwortet hatte, wagte er endlich, ihnen seine Frage zu stellen: »Wo ist Sonia?«
Mit einem Schlag verstummte das Gemurmel der Frauen. Sie hätten nie gedacht, dass Seev Feinberg gar nicht wusste, was seine Frau seit seiner Abreise so trieb. »Hat sie dir denn gar nicht erzählt, dass sie nach Tel Aviv gezogen ist?«, fragte Chaja Nudelmann voller Wonne. »Weißt du nicht, dass sie Direktorin geworden ist?«, flötete Sahava Tamir. »Leitende Assistentin des Irgun-Chefs!«, platzte Rivka Schacham heraus. Seev Feinberg erwiderte hastig, kraft seiner Aufgabe sei ihm jeder
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