Eine Nacht, Markowitz
Gewohnheit wurde. Es wäre verlockend, zu verlockend, zu sagen, ihr Niedergang habe bei Kriegsende angefangen. Als hätte die Erwartung auf die Heimat eine belebende und nährende Kraft besessen, die verflog, als das Verlangen erfüllt und Wirklichkeit geworden war. Als könnte ein unerfülltes Verlangen ewig bestehen. Im Grunde war es so: Die Jahre vergingen, und die Gefühle, Begierden und Gedanken vergingen mit ihnen. Körperzellen starben ab und wurden durch andere ersetzt. Haare fielen aus und wurden nicht immer durch andere ersetzt. Und doch machten die Menschen weiter wie gehabt. Als würden die Zellen und die Haare – von den Gefühlen, Begierden und Gedanken ganz zu schweigen – allesamt fröhlich weiterexistieren. Denn andernfalls würden sie ja spüren, dass die Tage sie hilflos, von Horizont zu Horizont trugen, so hilflos, wie eine Karawane schwarzer Ameisen einen auf dem Rücken liegenden Käfer seinem bitteren Ende entgegenführt. Und da in wenigen Minuten ein weißes Blatt auftauchen wird, jenseits dessen die Geschichte zehn Jahre später weitergeht, müssen schnell ein paar wichtige Ereignisse aus diesen zehn Jahren aufgezählt werden. Erstens aus Respekt vor den Figuren, damit sie sich nicht plötzlich wie achtlos herumgeworfene Marionetten vorkommen. Ein solches Erlebnis könnte, in psychologischer Hinsicht, sehr verstörend wirken. Zweitens, weil die Notwendigkeit, zehn Jahre zu überspringen, nicht das Unbehagen vertreibt, das einen bei harten Übergängen beschleicht. Denn mal ehrlich, wie kann ein einziges weißes Blatt geschlagene zehn Jahre in sich bergen, als würde der Mensch mittels einer Wundermaschine von einer Welt in eine andere katapultiert? Und schließlich ist die Beschäftigung mit Ereignissen aus den übersprungenen zehn Jahren geradezu unerlässlich für die scharfe Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Geschehnissen, eine Unterscheidung, die – wären die Menschen etwas geübter darin – ihr Leben von Grund auf verändern könnte, zumeist in positivem Sinn.
So besteht beispielsweise keinerlei Grund, sich mit dem Tag aufzuhalten, an dem Jakob Markowitz früher als erwartet nach Hause kam und Bella auf einem Bauern aus dem Nachbardorf reiten sah. Denn die Reitstellung, und gewiss der Bauer, waren völlig bedeutungslos. Unwichtige Schachbrettfiguren in dem Krieg, den Bella seit dem Tag führte, an dem ihr erstmals aufgefallen war, dass sich auf der Straße keiner mehr nach ihr umdrehte. Dieser Krieg nahm den Großteil ihrer Zeit in Anspruch und war zuweilen erbitterter als der gegen Jakob Markowitz. Das Einzige, was die Macht dieses Krieges übertraf, war seine Sinnlosigkeit. Mit dieser Sinnlosigkeit sollte man sich nun durchaus aufhalten, denn nie hatte Bella sich hohler gefühlt als in dem Moment, als der Bauer in sie eindrang.
Eminent wichtige Ereignisse, mit denen man sich aufhalten sollte, sind die folgenden:
1 . Ein kalter Januarmorgen, an dem Abraham Mandelbaum an Sonia und Seev Feinbergs Tür klopfte und seinen Sohn abholen wollte. In der einen Hand hielt er einen Rosenstrauß, in der anderen ein Attest vom Sanatorium, das ihm geistige Gesundheit bescheinigte. Sonia nahm die Rosen, wollte das Attest nicht lesen und rief Jotam. Abraham Mandelbaum übersiedelte mit dem Jungen in einen Kibbuz in der Aravasenke, möglichst weit weg von der Moschawa und ihren tuschelnden Zungen. Drei Jahre später verlor er die linke Hand, als sein Fahrzeug über eine Mine fuhr. Trotzdem konnte er ein Schaf immer noch einhändig schächten.
2 . Eine heiße Augustnacht, in der Jakob Markowitz aus dem Bett stieg, der schlafenden Bella lange ins Gesicht blickte und sich fragte, was er eigentlich von ihr wollte. Denn eines war ihm völlig klar: Wenn Bella jetzt aufwachte und aufstünde und ihn umarmte, würde er im Laufschritt aus dem Haus flüchten. So lange war die Lage gleich geblieben, dass er gar nichts anzufangen wüsste, wenn sie sich plötzlich verändern sollte.
3 . Eine heiße Augustnacht, in der Bella in ihrem Bett lag, Markowitz’ Augen auf sich spürte und sich weiter schlafend stellte. Hätte sie die Augen aufgeschlagen, ihm geradewegs in das unscheinbare Gesicht gesehen und gesagt: »Lass mich frei«, hätte er zweifellos nachgegeben.
4 . Der erste Abend, an dem Sonia und der Irgun-Vizechef aneinander vorübergingen, ohne sich zu grüßen. Sonia kehrte in ihre Wohnung in der Trumpeldor-Straße zurück und brach in Tränen aus. Der Irgun-Vizechef lag die ganze
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