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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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wieder auftauchte. Einen Augenblick, einen wonnigen Augenblick lang roch er nichts als das Grün der Quelle und die unreifen Feigen, die über ihm hingen. Dann verlangten seine Lungen weitere Atemluft, und er atmete tief durch und wusste, dass er gescheitert war – denn der Pfirsichgeruch schlug ihm wieder erbarmungslos entgegen. Da stieg Jair aus dem Wasser, trocknete seinen Leib mit dem Hemd ab und ging besiegt nach Hause.
    Für einen Moment blieb die Quelle still. Das Wasser spiegelte das lachende Gesicht des Mondes wider. Die Feigen wiegten sich am Ast, suchten die Süße dieser Nacht und der folgenden Nächte zu speichern. Und dann erzitterte das Wasser erneut, diesmal bei der Berührung mit Naama Feinbergs Körper. Während Jairs ganzer Wäsche hatte Naama in der Deckung der Büsche gestanden, hatte den schönen, geliebten Bruder gesehen, ohne selbst gesehen zu werden. Als er das Haus verlassen hatte, war sie ihm leise nachgegangen, hatte ihre Füße in seine Fußstapfen gesetzt. Geübt, sehr geübt. Keine Minute hatte sie gezögert, keine Minute überlegt, wie ihre Eltern wohl reagieren würden, wenn sie nachschauten und ihr Bett leer vorfänden. Doch sie würden nicht nachschauen, dessen war sie sich sicher. Denn ihn liebten sie mehr, und das wusste sie. Nicht, dass sie sie nicht in die Arme schlossen. Sie umarmten sie. Oft sogar. Jair erwarteten sie allerdings mit offenen, ständig offenen Armen. Naama umarmten sie, wenn sie darum bat. Wenn sie weinte. Wenn sie die Arme nach ihnen ausstreckte. Naama musste ihre Umarmungen aus dem Felsen schlagen, und auf Jair warteten sie. Ein verborgener Schatz an Zärtlichkeit, den er zerstreut annahm. Naama wollte ihn hassen, wollte es so sehr. Die prallen Wangen und den Lockenschopf, und diesen Geruch, der einem keine Ruhe ließ. Trotzdem gelang es ihr nie. Nicht von ganzem Herzen. Ihre eine Hälfte war bereit, ihn zu töten, die andere bereit, für ihn zu sterben. Und das genügte, um ihn am Leben zu lassen.
    Kurz nachdem Jair aus der Quelle gestiegen und heimgegangen war, streifte Naama ihr Hemd ab und watete ins Wasser. Vielleicht geschähe ja ein Wunder und auch an ihr bliebe etwas von diesem lieblichen, diesem ersehnten Pfirsichgeruch hängen. Sie würde sich sogar mit jedem anderen Geruch, von Kaki bis Pflaume, begnügen, solange ihre Haut nicht mehr so furchtbar gewöhnlich wäre und endlich Jairs und Sonias Haut gliche. Denn Jairs Geruch war schließlich nichts anderes als eine Variation von Sonias Geruch. Aber Naamas Körper duftete nicht, hatte keine besondere Note. Vergebens hatte sie ihre Haut mit den Schalen von Zitrusfrüchten abgerieben. Vergebens hatte sie ihr Essen weggeworfen und eine ganze Woche lang nur von Orangen gelebt. Ihre Haut blieb wie gehabt. Nun holte sie tief Luft und tauchte in die Tiefe, wie Jair es kurz zuvor getan hatte, bis der Druck in den Lungen ihren Willen überwältigte und sie wieder aus dem Wasser auftauchte. Und für einen Augenblick, einen wonnigen Augenblick dachte sie, vielleicht käme der Feigengeruch, der sie umwehte, von ihrem eigenen Körper. Dann verlangten ihre Lungen weitere Atemluft, und sie atmete tief durch und wusste, dass sie gescheitert war – denn der Feigenduft kam von den unreifen Früchten über ihr und nicht von ihr selbst.
    Sonia bemühte sich redlich, beide gleich zu lieben. Bemühte sich wirklich. So wie ein bebrillter Junge sich vornimmt, niemals Sehbehinderte zu verlachen, wie ein pummeliges Mädchen schwört, auch wenn sie sich einst in einen Schwan verwandeln sollte, niemals die hässlichen Entlein zu verspotten. Sonia selbst hatte sich – längst bevor sie Sonia war, noch als sechsjährige Sonitschka – geschworen, ihre Kinder später einmal immer, immer gleich zu lieben. Ihre Mutter hatte drei kräftige Söhne zur Welt gebracht und eine hässliche Tochter, die Jungenspiele spielte und deren auseinanderstehende, graue Augen der Mutter unbehaglich waren. Sonia erinnerte sich an ihr Entsetzen bei der Entdeckung, dass es das tatsächlich gibt, das Kind, das man mehr liebt. Und sie hatte doch immer an der konventionellen Lüge festgehalten – man liebt sie alle. Jedes auf andere Weise. Schließlich begriff sie, dass zwar alle demselben Schoß entsprangen, bei manchen jedoch die Nabelschnur nie ganz durchtrennt wurde. Ihre Mutter, die ihre Liebe in vier gleiche Scheiben hätte schneiden sollen, liebte ihren ältesten Sohn am meisten. Und danach die anderen beiden Söhne. Und zum Schluss sie. Jetzt

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