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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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schwarz wie Abrahams, aber das lachende Gesicht hatte er weder von seiner Mutter noch von seinem Vater geerbt. Zwischen den Schultern, auf seinem Nacken, Seev Feinbergs Haare wie Zügel in den kleinen Händen haltend, saß Jair und schrie: »Hü!«
    Seev Feinberg schickte die Kinder zum Spielen ins Wohnzimmer. Jotam wies er an, auf Jair aufzupassen. Jair wies er an, auf Naama aufzupassen. Und Naama – die vielleicht noch gar nichts verstand – wies er an, auf eine Lumpenpuppe aufzupassen, die fast so groß war wie sie. Dann setzte Seev Feinberg einen Wasserkessel auf und ließ den Blick unaufhörlich vom Kessel zu den Kindern, von den Kindern zum Kessel schweifen. Jakob Markowitz wartete, bis Bella ins Wohnzimmer gegangen war, und flüsterte seinem Freund dann ins Ohr: »Sag mal, was hat Sonia zu der Kleinen gesagt?« Seev Feinberg zuckte die Achseln. »Du kennst doch Sonias Herz, so weit wie von hier nach Petach Tikwa. Als sie begriff, dass ich sie wollte, hat sie sie ohne Zögern aufgenommen.«
    Seev Feinberg gehörte nicht zu denen, die sich an der Wahrheit versündigen. Überwiegend hielt er sich an die Wirklichkeit. Auch jetzt hatte er keine Lüge erzählt. Das Bild, das er Jakob Markowitz zeigte, glich einer beschlagenen Fensterscheibe: Der Dunst drinnen verschleiert die Realität draußen. Sonia hatte ihn tatsächlich nicht mit Fragen über die Kleine gequält. Sie hatte nicht nachgeforscht, wo sie herstammte und warum er sie mitgebracht hatte. Aber gerade diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind machte Seev Feinberg zu schaffen. Der Umstand, dass sie nicht nachforschte, nichts verlangte, ja, zum Teufel, nicht mal etwas fragte, beunruhigte ihn. Denn sosehr er sich in Europa noch gewünscht hatte, Sonia möge das Kind akzeptieren und ihn nicht mit Fragen bombardieren, so ungern er auch jene Nacht an der Brücke wieder durchkauen wollte, so hatte er in tiefster Seele doch gehofft, sie würde ihm das Geheimnis entlocken. Insgeheim wollte Seev Feinberg Sonia erzählen, warum er außer Landes geflohen und warum er heimgekehrt war, wollte seinen Kopf auf ihren Schoß legen und von dem toten Baby reden und von dem kleinen Mädchen, das er vorm Tod gerettet hatte.
    Aber Sonia fragte nicht, obwohl die Neugier an ihr nagte. Sie fürchtete, ihre Fragen würden das labile Gleichgewicht stören, das Seev Feinberg die Heimkehr ermöglicht hatte. Bald hatte sie sich eingeredet, es würde nichts ausmachen, woher das Kind stammte, solange Seev Feinbergs Arme es hergetragen hatten. Wenn sie mitten in der Nacht von leisem Weinen erwachte und dann allein am Kinderbettchen stand und sich fragte, wer die Kleine wohl sei, die sie fürsorglich wickelte, antwortete sie sich selbst, dass auch Seev Feinberg ein Kind versorgte, dessen Herkunft er nicht kannte. Das ist der Lauf der Welt. So meistern Menschen, die sich auf der Welt zurechtfinden möchten, das Minenfeld zwischen Wahrheit und Lüge.
    Allerdings stand Sonia nur selten mitten in der Nacht am Bett der Kleinen. Meist schlief sie tief nach einem langen Tag der Kämpfe und Sitzungen. Seev Feinberg wachte von dem Weinen auf, rappelte sich benommen von der warmen Matratze hoch und tappte ins Wohnzimmer, das abends zum Kinderzimmer umfunktioniert wurde. Dort wickelte er die heulende Naama, beruhigte Jair, der vom Lärm aufgewacht war und ebenfalls plärrte, und dankte Jotam von Herzen dafür, dass er weiter mit geschlossenen Augen dalag und trotz des Heulkonzerts ruhig atmete. In den ersten Wochen nach seiner Heimkehr genoss Seev Feinberg diese nächtlichen Expeditionen sogar. Er war sicher, dass er das Herz seines Sohnes zurückgewinnen würde. Tatsächlich heulte Jair nach einer Woche nicht mehr los bei seinem Anblick, sondern ließ es bei einem skeptischen bis misstrauischen Blick bewenden. Eine weitere Woche des Umwerbens veranlasste den Kleinen, Feinberg gnädig anzulächeln. Nach Ablauf von drei Wochen hing er wieder so an seinem Vater wie der Vater an seinem Sohn.
    Als Jakob Markowitz und Bella an die Wohnungstür klopften, war Seev Feinberg ein glücklicher Mensch. Er war ein Räuber und ein Pirat und ein Riese gewesen, und das alles noch vor zehn Uhr morgens. Aber als er dann die Tür aufmachte, befiel ihn ein vages Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. Erst, als er Bella den Tee hinstellte und ihren Blick auffing, bemerkte er seine Verlegenheit. »Na was denn, Feinberg, Sonia regiert die Welt, und du kümmerst dich um die Kinder?« Seev Feinberg wusste nichts

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