Eine Nacht, Markowitz
Marmorblöcke brachen reihenweise weg, Kies und Sand und Steine wirbelten herab. Der Tempel, den Zwi Markowitz seinem Vater im Geist errichtet hatte, stürzte polternd ein, und eine Staubwolke erhob sich aus den Trümmern.
Naama las hastig die ganz gebliebenen Erdbeeren auf. Jair kniete sich neben sie. Zwi Markowitz blieb stehen und starrte in die Luft. Vor seinen Augen fügten sich Satzfetzen aneinander, die er daheim aufgeschnappt hatte, Getuschel von Nachbarn, Lehrerblicke. Plötzlich war die Erkenntnis so klar, als wäre sie immer schon da gewesen. In diesem Moment merkte Zwi Markowitz, dass er sich gleich übergeben würde.
Er drehte sich um und fing an zu rennen. Weg von den Schubkarren voll Erstlingsfrüchten. Weg von den Kürbissen und den Orangen und den Pfirsichen. Weg von den Erdbeeren. Nach ein paar Minuten blieb er stehen und übergab sich am Straßenrand. In rotem, sämigem Strahl, all die Erdbeeren, die er seit dem Morgen in sich hineingestopft hatte. Der rote Brei auf dem Boden sah aus wie der Darm eines Tieres. Er hatte einen ekelhaft süßen Geschmack in der Kehle. Er übergab sich noch mehr. Und noch und noch. Er kotzte selbst dann noch, als die Übelkeit längst verflogen war. Er erbrach sich weiter, als es längst nichts mehr zu erbrechen gab. Und doch steckte er den Finger in den Hals und wartete und erbrach erneut und zwang sich, weiter zu erbrechen, denn er wusste nicht, was er machen sollte, wenn er damit aufhörte. Er kotzte und kotzte, aber trotz allem Erbrechen wurde er Rivka Schachams Worte nicht los, die sich in seinem Bauch festgesetzt hatten und seine Eingeweide mit geballten Fingern umkrallten. Bis andere Finger kamen und seine Hand ergriffen und Naama Feinberg sagte: »Genug.«
Zwi Markowitz entwand sich ihrem Griff, steckte erneut den Finger in den Hals. Aber ehe er noch erbrechen konnte, nahm Naama wieder seine Hand und sagte nochmals: »Genug.« Diesmal schüttelte er ihre Hand nicht ab. Aus einer benachbarten Straße hörte man Gesang. Gleich würde der Festzug der Erstlingsfrüchte hier eintreffen. »Komm«, sagte Naama Feinberg zu Zwi Markowitz und zog ihn an der Hand. Er tappte ihr nach. Die Spitze des Zuges kam hinter der Biegung in Sicht, und Naama Feinberg trieb ihn zur Eile an. Erst als sie die Zypressenallee überquert hatten, ging sie langsamer. Sie hielt den ganzen Weg bis zur Quelle seine Hand. Sie hielt sie auch dann noch, als sie sich auf die feuchte Erde setzten, ihre weißen Festkleider schmutzig machten. »Jetzt wünsch dir was.«
»Was?«
»Wünsch dir von der Quelle, was du möchtest. Sie erfüllt Wünsche. Meine Mutter hat es mir gesagt.«
»Das meinst du nicht im Ernst.«
»Völlig im Ernst. Bei mir hats geklappt.«
»Du hast dir was gewünscht und es bekommen?«
»Ich hab mir zwei Dinge gewünscht. Eins habe ich bekommen. Das heißt, du hast fünfzig Prozent Erfolgschancen.«
»Was hast du dir gewünscht?« Naama Feinberg sah aufs Wasser, ehe sie antwortete. »Ein Wunsch hat sich erfüllt, einer nicht. Erfüllt hat sich mein Wunsch, dass die Feigen reif werden.« Zwi Markowitz schnaubte verächtlich. »Aber die reifen sowieso.« Naama Feinbergs Hand ballte sich in seiner. »Sag das nicht.«
Also sagte er es nicht. Er saß da und schwieg und hielt Naama Feinbergs Hand und dachte sich, dass eine Quelle, die Wünsche erfüllt, das Dümmste sei, was er je gehört hatte. Und er dachte, dass Erwachsene die boshaftesten Wesen seien, die ihm je begegnet waren. Und er dachte, dass Naama Feinbergs Hand das Angenehmste war, das er je gehalten hatte.
Von jenem Tag an hielt Zwi Markowitz Naama Feinbergs Hand nicht mehr. Als die Sonne über der Quelle unterging, standen sie auf und gingen heim. Zwi ins leere Haus (Denn Jakob Markowitz war aufs Feld gegangen und torkelte wie ein Trunkener zwischen den Erdbeeren umher, und Bella war ausgegangen, um auf den Dorfstraßen der Enge des Hauses zu entfliehen.) und Naama Feinberg ins volle Haus (Denn Sonia war wegen des Feiertags vorzeitig aus Tel Aviv heimgekehrt, und nun stritten sie und Seev Feinberg sich darüber, wer für den traditionellen Käsekuchen zum Fest hätte sorgen müssen. Er behauptete, sie, und sie fauchte, er, und schon riss sie die Schüssel mit Quark vom Küchentisch – dem Quark, der ein Kuchen hätte werden sollen, wenn auch unklar war, mit wessen Hilfe – und schleuderte Feinberg eine Handvoll ins Gesicht, und der stürzte sich mit wütendem Auflachen und quarktropfendem Schnauzer auf sie.).
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