Eine Nacht, Markowitz
Und der Kopf schwirrte ihm so vor Berechnungen über Stunden und Liter und Kilometer, dass er Zwi Markowitz’ Sturz und Naamas Aufschrei im ersten Moment gar nicht hörte.
Als Jair Feinberg sich umwandte, sah er seinen Freund mit dem Gesicht auf dem Boden liegen und seine Schwester über ihn gebeugt und an ihm rütteln. Sofort eilte er zurück und drehte Zwi Markowitz auf den Rücken, klopfte ihm leicht auf die Wangen. Zwi Markowitz’ Augen öffneten sich einen schmalen Spalt. Seinem Mund entfuhr ein unverständliches Röcheln, das doch keinen Zweifel zuließ: »Wasser.« Mit letzten Kräften zerrten Jair und Naama Zwi in den dürftigen Schatten einer einsamen Akazie. Die Anstrengung beim Schleppen brachte sie schwer ins Schnaufen, was den Schmerz in der Kehle noch verstärkte. Jetzt half nichts mehr gegen die Panik, die zwischen Jair und Naama hin- und herrannte, jeden Ansatz eines Gedankens unter ihren Füßen zertrampelte. »Wir machen kehrt«, sagte Naama.
»Dreißig Stunden ohne Wasser? Wir sollten lieber weitergehen.«
»Aber Zwi kann nicht mehr.«
»Ich nehme ihn auf den Rücken.«
»Und dann kippst du auch um, und ich soll euch beide tragen?«
»Hast du eine bessere Idee?«
Naama verstummte einen Moment, und dann flüsterte sie ruhig: »Vielleicht rufen wir um Hilfe?«
»Du spinnst wohl. Die Jordanier würden auf uns schießen.«
»Vielleicht schießen sie nicht«, sagte Naama. »Wir sind doch bloß Kinder.« Darauf verstummten sie beide. So töricht und unbedacht erschien ihnen jetzt dieses ganze Abenteuer, eine kindische Tour. Jair Feinbergs quälender Durst in der Kehle war nichts gegen die Wut, die ihn packte. War er das wirklich, ein Kind, das sich als Mann aufspielte? »Bleib du hier, bei Zwi. Ich geh Wasser holen.«
»Bist du übergeschnappt? Wir dürfen uns nicht trennen. Das hast du selbst bei jeder Übung gesagt, die wir je gemacht haben.«
»Das hier ist keine Übung, Naama. Es ist alles andere als eine Übung. Wir brauchen Wasser. Zwi kann nicht mehr gehen, und ihn hier zurücklassen kommt nicht infrage. Die Quelle muss ganz in der Nähe sein. Ich lauf los, suche sie und komm zurück.« Naamas Kehle war zu trocken, um einen Ton von sich zu geben. Deshalb schüttelte sie nur verneinend den Kopf, immer wieder. Jair kam auf die Füße. Naama schüttelte den Kopf noch heftiger, blieb jedoch sitzen. »Ein Pfiff bei Gefahr, zwei Pfiffe, wenn ich Wasser gefunden habe. Kannst du das behalten?«, fragte Jair.
Naama schüttelte weiter den Kopf, wusste aber sehr wohl, dass sie es behalten würde. Sie selbst hatte Jair ja das Pfeifen beigebracht, ihn mit endlosen Übungen gequält, bis er den starken, gleichbleibenden Ton hinkriegte. Was hatte er sich aufgeregt, dass ihr das Pfeifen so leichtfiel, während er immer wieder daran scheiterte. Und was hatte sie sich gefreut, dass es tatsächlich etwas gab, in dem sie ihren Bruder übertraf. Ein Pfiff bei Gefahr, zwei Pfiffe bei einer freudigen Entdeckung – so hatten sie sich doch das Nahen des Schuldirektors signalisiert, das Auffinden eines geliebten Gegenstands, den passenden Moment, um das Versteck der Feigenmarmelade zu knacken. Jair Feinberg drehte sich um und ging los, spürte Naamas Augen im Rücken bis zur Biegung des Wadis. Hinter der Ecke konnte sie ihn nicht mehr sehen. Jetzt schritt er allein voran. Eine Woge der Erregung durchströmte seine Glieder. Allein in der Wüste. Wie die Geschichten seines Vaters über dessen Freund Freuke, der im Alleingang die Dünen überwunden hatte, um die Eingekesselten im Kibbuz Nitzanim zu befreien. Der Durst ließ etwas nach, Jair beschleunigte das Tempo. Jetzt fühlte er sich stärker als zuvor, obwohl ein Außenstehender beim Anblick seines sonnenversengten Gesichts und der halluzinierenden Augen erschauert wäre. Jair Feinberg wusste genau, wo er hinwollte – wenn er über den Felsrücken abkürzte, würde er rasch an die Gabelung der Bachläufe gelangen, und dort dann links, zu der Quelle auf der Karte. Klares, süßes Wasser erwartete ihn dort. Bei dem Gedanken an Wasser schritt er noch schneller voran, stellte sich vor, wie er in kräftigem Lauf zur Quelle rannte, sah sich, wie im Hohelied, über die Berge springen, über die Hügel hüpfen. In Wirklichkeit taumelte er ein paar hundert Meter voran, torkelte wie ein Betrunkener auf weichen Knien. Aber hinter der nächsten Biegung, hinter der nächsten Biegung witterte er schon den Geruch der Quelle, hörte er schon das Plätschern des Wassers.
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