Eine Nacht, Markowitz
»Ich habe Sonia beschuldigt. Ehrlich gesagt, war ich ziemlich gemein. Auch Bellas Schwangerschaft hat da nichts geholfen. Und dann kam Jair, und alles war wieder gut.« Seev Feinberg zögerte, ehe er weiterredete. Zum ersten Mal im Leben sprach er Dinge laut aus, die er vorher kaum zu denken gewagt hatte. Er fürchtete, den Irgun-Vizechef mit seinen Worten verlegen zu machen, und wandte daher den Kopf, um seinen Gesprächspartner anzusehen. Sofort entfuhr ihm ein Schrei, denn der Irgun-Vizechef fuhr mit fest geschlossenen Augen und verbissenen Lippen und umklammerte das Lenkrad wie mit den Pranken eines Tieres. »Freuke!« Der Irgun-Vizechef schlug die Augen auf.
»Was ist denn? Wo tuts dir weh?!«
»Nichts, nichts, schon vorbei.«
»Soll ich mal fahren?« Der Irgun-Vizechef schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Einen Augenblick erwog der Irgun-Vizechef all die Antworten, die er auf diese Frage hätte geben können, aber zum Schluss begnügte er sich mit »Ja«. Ein paar Minuten fuhren sie schweigend. Dann wandte sich der Irgun-Vizechef in gefasstem Ton an Seev Feinberg und sagte: »Erzähl weiter.« Mehr brauchte Seev Feinberg nicht. Sogleich legte er los und erzählte seinem Freund von der Geburt des Jungen, den alle einstimmig für das schönste Baby im Dorf gehalten hatten, wie er zuerst rückwärts gekrabbelt war und danach erst vorwärts. Seev Feinberg erzählte und erzählte, und der Irgun-Vizechef lauschte und prägte es sich ein, hielt die Hand über die bebende Lippe. Ab und zu fügte er Fragen an, die Feinberg überraschten, wie zum Beispiel: »Und hat er geweint, wenn ihm ein widerspenstiger Milchzahn im Kiefer stecken blieb?« Oder: »Und als was hat er sich letztes Jahr verkleidet?« Seev Feinberg antwortete ausführlich. Bei Sonnenaufgang kannte der Irgun-Vizechef Jair Feinbergs ganze Lebensgeschichte, von dem »Ungenügend« in Bibelkunde bis zu seiner Schwäche für Feigenmarmelade.
6
J air Feinberg wusste genau, wann sie vom richtigen Weg abgekommen waren. Es war an der Gabelung der ausgetrockneten Flussläufe gewesen, unweit der Akazie. Er hatte gemeint, sie müssten sich links halten, aber Naama hatte steif und fest behauptet, rechts, und Zwi hatte zu ihr gehalten. Auch wenn sie vorgeschlagen hätte, sie sollten sich einen Weg nach unten buddeln, hätte er ihr zugestimmt. Einen Moment dachte Jair daran, zurückzugehen und es Zwi Markowitz an den Kopf zu werfen, doch seine Kehle war zu ausgedörrt für überflüssige Worte. Deshalb schlurfte er weiter und formulierte im Kopf allerlei wohlbegründete Beleidigungen, die sich mit dem Pochen des Blutes in seinen Schläfen vermischten. Unter den Beleidigungen und den Pulsschlägen verbarg sich die Panik. Starr, lähmend, drohte sie ihn zu Boden zu werfen. Jair Feinberg bekämpfte sie mit Macht, aber sie wuchs von Stunde zu Stunde, verfinsterte Vernunft und Logik wie eine wuchernde Nekrose. Einen Moment erlag Jair Feinberg der Versuchung, sich umzudrehen, doch sofort blickte er wieder nach vorn. Das Grauen auf Naamas und auf Zwis Zügen war unverkennbar. Und ansteckend. Alle wussten – wenn sie einander anschauten, würden sie nicht mehr die Energie zum Weitergehen aufbringen, und deshalb sahen alle drei nach vorn und schleppten sich, so gut es ging, vorwärts. Keiner schlug vor, kehrtzumachen. Sie erinnerten sich bestens an die öde Wüste, die sie und Jotvata trennte. Vor ihnen gab es eine Quelle, so stand es auf der Kartenskizze. Wenn sie nur weitergingen, würden sie sie erreichen. Doch das Gehen fiel immer schwerer. Das Blut pochte heftiger in Jairs Schläfen, und die Kehle schmerzte vor Durst. Nie hatte Jair Feinberg geahnt, dass Durst weh tun kann. Als er daran dachte, kroch ihm die Panik den Rücken hoch wie Dutzende kleine Schlangen. Jair Feinberg kämpfte dagegen an, beschäftigte sein Gehirn mit komplizierten mathematischen Berechnungen: Neun Liter Wasser verteilt auf einunddreißig Stunden Wanderung, das macht null Komma zwei neun Liter Wasser pro Stunde, was null Komma null neun sieben Liter pro Mann und Wegstunde ergab. Aber diese Rechnung war ungenau. Denn seit acht Stunden marschierten sie ohne jedes Wasser, und deshalb musste man alles durch dreiundzwanzig Stunden teilen und vielleicht das Wasser mitrechnen, das sie vor dem Aufbruch getrunken hatten. Diese Berechnungen waren tatsächlich ein wirksames Mittel, um die Panik zurückzudrängen, weshalb Jair Feinberg sie noch entschlossener fortsetzte.
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