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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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der Fahrt nach Süden über das Kind gestellt hatte, an sein Beharren, den Jungen auf dem ganzen Rückweg aus der Wüste allein zu tragen, an die Leichenblässe, die Sonia bei seinem Tränenausbruch befallen hatte. Mit einem Schwung drehte Seev Feinberg sich um und stürmte aus dem Wartesaal. Jakob Markowitz eilte ihm nach. Auf dem Flur begegneten sie einer schwangeren Frau, einem jungen Mann mit gebrochenen Beinen und vier stöhnenden Alten, ohne einen von ihnen zu beachten. Die Eingangstür, die die Welt der Kranken von der Welt der Gesunden trennte, erbebte in den Grundfesten, als Seev Feinberg mit ungeheurer Wucht ins Freie rannte.
    Jakob Markowitz ging hinter seinem Freund die Straße entlang. Er zögerte, ob er Seev Feinberg in seinem Zorn nahekommen oder ihn lieber in Ruhe lassen sollte, und entschied sich schließlich, weder noch zu tun. Stattdessen folgte er ihm in einem Höflichkeitsabstand, der Seev Feinberg die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme gab. Ein paar Minuten später sprach ihn Seev Feinberg tatsächlich an, mit gefasster Stimme, das Gesicht von Zweifeln gequält.
    »Meinst du, dass es stimmt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ich habe nicht gefragt, was du weißt. Ich habe gefragt, was du meinst.«
    »Ich meine ja.«
    »Aber warum hätte sie so was tun sollen?« Seev Feinberg stellte die Frage, wagte jedoch nicht, die Antwort auszusprechen, die in seinem Kopf Gestalt annahm. Jakob Markowitz hütete sich ebenfalls, Dinge laut auszusprechen, die man besser mit Schweigen überging. »Menschen tun verschiedene Dinge aus verschiedenen Gründen.«
    »Und ich«, fragte Feinberg, »was soll ich machen?«
    Jakob Markowitz schwieg. Kurz darauf sagte er: »Wie soll ich dir da Rat erteilen, Feinberg? Eine Liebe wie eure, die kann ich nur von außen betrachten, wie man in ein Schaufenster sieht.« »Von welchem Schaufenster redest du denn?!«, brüllte Seev Feinberg. »So sieht dir Liebe aus??« »Ja«, antwortete Jakob Markowitz in ruhigem, sicherem Ton, »genau so sieht mir Liebe aus. Glaub mir, wer ohne sie lebt, kann sie von Weitem erkennen.«
    Seev Feinberg antwortete nicht. Kränkung und Zorn ließen ihn am ganzen Leib erbeben. Passanten sahen ihn besorgt an. Er fixierte seine Umgebung mit glühenden Augen, suchte etwas, das er eigenhändig zerschmettern könnte. Obwohl er einige durchaus würdige Kandidaten ausmachte – eine nahe Holzbank, einen jungen Mann mit bösem Gesicht, ein schlecht angebrachtes Straßenschild – blieb er doch stehen, die Hände zu Fäusten geballt. Er wusste sehr wohl: Selbst wenn er die ganze Stadt bis auf die Fundamente in Trümmer legte, bliebe die Einsicht doch in seinem Kopf haften. Jakob Markowitz sah seinen Freund einige Minuten an. Dann stapfte er zurück zum Krankenhaus.
    Als Jakob Markowitz den Wartesaal betrat, blickte Sonia hoffnungsvoll zu ihm auf, aber als sie sah, dass er allein zurückkam, barg sie den Kopf in den Händen. Jakob Markowitz setzte sich zögernd neben sie. Die Worte, untreu wie immer, flohen ihn. Er hatte keine Ahnung, was er dieser trauernden Löwin sagen sollte. Schließlich hob er die Hand, um sie ihr auf die Schulter zu legen. Aber eine andere Hand kam ihm zuvor, eine große und warme, die Hand von Seev Feinberg. Ohne ein Wort zu sagen, stand Jakob Markowitz auf und machte seinem Freund den Platz frei. Seev Feinberg setzte sich stumm neben seine Frau. Einen Moment war seine Miene noch finster, der Schnauzer wütend gesträubt – und dann entspannte sich Seev Feinberg mit einem Schlag und flüsterte: »Sonitschka.« Sonia hob den Kopf aus den Händen und schmiegte ihr Gesicht an die Brust ihres Mannes. Hinter dem Hemdenstoff, dem staubigen, gekräuselten Brusthaar, der schwitzenden Haut pochte Seev Feinbergs Herz heftig an Sonias Wange.
    So zärtlich war der Anblick, dass alle, die im Wartesaal saßen, rasch die Augen abwandten. Er war nicht für sie gedacht. Alle, außer Jakob Markowitz. Er starrte Seev Feinberg mit weit aufgerissenen Augen an. Er hatte doch gerade noch vor dem Krankenhaus herumgebrüllt, sich zähneknirschend an seine Kränkung geklammert. Und nun hatte er sie mit einem Schlag abgeworfen, hatte den verwesenden Kadaver hinter sich gelassen und tröstete wieder seine Frau. Und er, Jakob Markowitz, suhlte sich seit langen Jahren in seiner Kränkung, hielt seine widerstrebende Geliebte fest und wollte einfach nicht loslassen. Verglichen mit Feinbergs Verhalten wirkte sein Festklammern an Bella armselig, sinnlos. So lange hielt Jakob

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