Eine Nacht, Markowitz
Jair Feinberg steckte zwei Finger in den Mund, machte sich bereit für zwei starke Pfiffe.
Jakob Markowitz sah sie als Erster. Zwei vor Durst und Hitze benommene Kinder im Schatten der Akazie. Sein Freudenschrei war der erste Ton aus ihren Mündern nach langen Stunden. Seit Beginn des Fußmarsches hatten sie aufmerksam die Spuren der Jugendlichen verfolgt und so weit wie möglich mit Worten gespart. Sie verließen sich auf die Fußabdrücke der Kinder im Sand und auf die Kartenskizze, die sie von dem Mann in Jotvata erhalten hatten, eine Karte, die – wie er sagte – identisch mit der war, die er seinerzeit den jungen Leuten geschickt hatte. Aber mehr noch verließen sie sich auf den zarten, kaum spürbaren Pfirsichgeruch. Knapp vierundzwanzig Stunden lagen zwischen dem Wüstenmarsch der Kinder und dem Marsch ihrer Eltern, aber die heiße Erde hatte Jairs Schweiß aufgesogen, und die stehende Luft bewahrte seinen Geruch. Wenn ihnen Zweifel über die richtige Strecke kamen, blieben sie stehen, bückten sich zur Erde und atmeten tief ein. Meist war Seev Feinberg der Erste, der sich wieder aufrichtete und mit dem Kopf die weitere Richtung angab. Tagtäglich hatte er ja den Jungen beschnuppert, wenn er aus der Dusche kam, hatte angespannt auf jeden Anflug des verhassten Dufts gelauert, dem Jungen befohlen, sich noch einmal abzuspülen, sobald er einen Hauch von Pfirsich in seinen Poren witterte. Jakob Markowitz kam gleich nach seinem Freund wieder hastig hoch, um weiterzugehen, aber der Irgun-Vizechef verharrte einen Moment länger über dem Boden, die Augen geschlossen, und sog die Erinnerung an die Präsenz des Jungen ein.
Als Jakob Markowitz die beiden unter der Akazie liegen sah, rannte er auf sie zu, Seev Feinberg und der Irgun-Vizechef hasteten ihm nach. Sie glaubten mit Sicherheit, jenseits des Baumes auch den fehlenden Dritten zu finden, aber bei der Akazie angekommen, merkten sie, dass Jair weg war. Sie flößten Naama und Zwi Wasser ein und klopften ihnen auf die Wangen, bis sie die Augen aufschlugen. Sie waren sehr schwach, richtiggehend ausgetrocknet, doch der Schatten des Baumes hatte sie gegen die tödliche Sonnenhitze geschützt. Wieder und wieder versuchten Seev Feinberg und der Irgun-Vizechef aus den Jugendlichen herauszuholen, in welche Richtung Jair gegangen war, aber die beiden waren zu schwach zum Sprechen. Nach einigen Minuten beschlossen sie, sich zu trennen: Jakob Markowitz sollte bei den Kindern bleiben, und Seev Feinberg und der Irgun-Vizechef würden den fehlenden Jungen suchen. Sofort bückten sich die beiden und sogen die Luft vom Boden ein. Dann richteten sie sich wie ein Mann auf und rannten zur Biegung des trockenen Bachbetts und von dort den Hang hinauf. Jetzt waren die Fußabdrücke des Jungen im Sand unübersehbar. Doch während die Fußspuren sich deutlich abzeichneten, wurde der Pfirsichgeruch immer schwächer. Seev Feinberg spürte es, der Irgun-Vizechef desgleichen, und sie sahen sich sorgenvoll an, während ihre Füße weiter den Spuren folgten. Seev Feinberg und der Irgun-Vizechef atmeten in tiefen Zügen, gänzlich angespannt, um den Geruch des Jungen zu wittern. Aber mit jedem Atemzug taten sie sich schwerer, den Pfirsichduft auszumachen. Kurz vor der Wegbiegung holten sie noch einmal tief Luft. Genau in dem Augenblick, als sie eindeutig nichts mehr rochen, nahmen ihre Füße die Biegung, und dahinter lag Jair Feinberg am Boden.
Seev Feinbergs markerschütternder Schrei hallte noch Stunden in den Hügeln wider, nachdem die Sucher Richtung Grenze aufgebrochen waren, die Kinder auf den Schultern. Jakob Markowitz machte den Schluss, sein Sohn hing ihm über der Schulter, und er selbst schwebte zwischen Ohnmacht und Wachen. Die glühende Sonne und das Gewicht des Jungen belasteten Jakob Markowitz kein bisschen, denn als er ihn an der Akazie in die Arme nahm, hatte der Junge ihn schwach angelächelt und »Papa« gesagt. Dieses Wort genügte, um Jakob Markowitz trotz der Strapazen des Weges auf den Beinen zu halten. Seev Feinberg ging kurz vor Jakob Markowitz und trug Naama auf den Schultern. Er glaubte fest, das Mädchen sei während des ganzen stundenlangen Marsches benebelt gewesen, aber dem war nicht so. Nachdem Jakob Markowitz ihr bei der Akazie zu trinken gegeben hatte, war sie langsam zu sich gekommen, nur hatte sie der markerschütternde Schrei von der Wegbiegung völlig gelähmt. Als Seev Feinberg und der Irgun-Vizechef im Laufschritt mit Jair zurückkamen, hatte sie die
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