Eine Nacht, Markowitz
Augen zugemacht, um sich vor dem Anblick zu schützen. »Schnell«, hatte der Irgun-Vizechef gerufen, »zur Grenze. Vielleicht kann man ihn noch retten.« Minuten später waren die drei Männer schon zurückgehetzt, jeder einen Jugendlichen auf den Schultern. In all den Stunden, die seither vergangen waren, hatte Naama die Augen geschlossen gehalten, während der Ausruf des Irgun-Vizechefs ihren Kopf erfüllte: Vielleicht kann man ihn noch retten. Sie wäre gern wieder in das ohnmächtige Halbdämmern verfallen, in dem man sie, nach Gott weiß wie vielen Stunden des Wartens im Schatten der Akazie, gefunden hatte. Aber von Minute zu Minute fühlte sie sich wacher, bewusster, und deshalb konnte sie Seev Feinbergs Schniefen und das heftige Zittern seiner Schultern nicht ignorieren. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, wusste Naama, dass der Mann, der sie nach Hause trug, den ganzen Weg bis zur Grenze weinte.
Fünfzig Meter vor Seev Feinberg und Jakob Markowitz ging der Irgun-Vizechef, Jairs bewusstlosen Körper über der Schulter, seinen Arm um die Lenden des Jungen gelegt. Im nächsten Sommer würde er einundvierzig Jahre alt werden. In einer Schublade seiner Tel Aviver Wohnung lagen drei Tapferkeitsauszeichnungen und ein Dankesbrief des Ministerpräsidenten, dessen Inhalt geheim war. Mindestens sieben Kinder hatte man nach ihm benannt. Mindestens fünfzig Männer waren bei Zusammenstößen mit ihm ums Leben gekommen. Er hatte mit elf Frauen geschlafen. Er liebte eine. Und all das hätte er, ohne mit der Wimper zu zucken, hingegeben, um diesen Jungen atmend ins Land zu bringen. Hinter sich hörte er Seev Feinbergs Wehlaute, aber er selbst gab keinen Ton von sich. Kein Wort. Keine Träne. Nur schnell und unablässig den ganzen Weg zur Grenze. Solange er weitergehen konnte, solange er es fertigbrachte, seinen seelischen Sturm in körperliche Tätigkeit umzusetzen, würde der Sturm unter Kontrolle bleiben.
7
Z wi Markowitz wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit von dem Moment, in dem ihnen israelische Soldaten entgegengerannt waren, bis zu dem Moment, in dem er sich in den gestärkten Laken des Krankenhausbetts wiedergefunden hatte, vergangen war. Er wusste nicht, wann seine Mutter eingetroffen war und in welchem Stadium man Naama Feinbergs Bett in sein Zimmer geschoben hatte. Als er die Augen aufschlug, meinte er, es sei lange, vielleicht Jahre her, denn seine Mutter sah ihm plötzlich sehr gealtert aus. Bella Markowitz küsste wieder und wieder und wieder das Gesicht ihres Sohnes. Danach nahm sie Jakob Markowitz’ Hand und küsste sie ebenfalls. Zwi Markowitz sah verlegen von seinen Eltern zu Naamas Bett hinüber. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, aber Zwi Markowitz wusste sofort, dass sie nicht schlief. Die fest zugekniffenen Lider verrieten ihre Anstrengung, sie mit Macht zuzuhalten. Wenn sie sie aufschlug, würde sie vielleicht entdecken, dass ihr alter, geheimer Traum sich erfüllt hatte – sie das einzige Kind ihrer Eltern war. Naama Feinberg weigerte sich, die Augen aufzumachen, und Zwi Markowitz hatte keinerlei Absicht, sie dazu zu nötigen. Stattdessen streckte er tastend die Hand aus und tat, was er schon seit Monaten tun wollte – er ergriff ihre Hand.
Jakob Markowitz und Bella verließen das Zimmer und gesellten sich zu dem Irgun-Vizechef, Seev Feinberg und Sonia im Wartesaal. Als der Arzt nahte, standen sie zu seiner Begrüßung auf, nur Sonia blieb sitzen und starrte auf den Linoleumboden. Die Chancen stünden schlecht, sagte er. Der Junge leide an einem schweren Hitzschlag. Man könne nur ahnen, wie viele Stunden er dort in der prallen Sonne gelegen habe. »Aber vielleicht geschieht ein Wunder«, warf Jakob Markowitz ein. »Ja«, sagte Bella, »vielleicht geschieht ein Wunder.« »Vielleicht geschieht ein Wunder«, pflichtete der Arzt bei. Er stimmte immer zu, wenn von Wundern die Rede war. In dem Schweigen, das den Worten des Arztes folgte, blickten alle auf Feinberg und Sonia. Doch es war der Irgun-Vizechef, der plötzlich heftig und unkontrollierbar weinte. Dreizehn Jahre der Erwartung und der Versäumnis drangen ihm in langen, verzweifelten Schluchzern aus der Kehle. Seev Feinberg musterte den Irgun-Vizechef mit überraschter Miene, die sich zusehends verfinsterte. Jakob Markowitz blickte Seev Feinberg ins Gesicht und erkannte, dass sein Freund etwas zu argwöhnen begann, was er selbst seit Langem ahnte. Mit gefurchter Stirn dachte Feinberg an die Fragen, die der Irgun-Vizechef ihm während
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