Eine Nacht, Markowitz
von Sonias Kleid. Sonias Schimpfkanonade ließ die Türpfosten erbeben. Abraham Mandelbaum nahm sein Messer und reinigte es gründlich. Immer spülte er sein Messer nach einer Schächtung, um Blut nicht mit Blut zu vermischen, das Blut des toten Tieres nicht mit dem des Tieres, das getötet werden würde. Von der anderen Seite der Fleischerei sah ihn der Kopf des Kalbes an. Vor Jahren, als Neuling in seinem Handwerk, hatte er gemeint, Zorn in den Augen der toten Tiere zu sehen, und hatte nach Einbruch der Dunkelheit ihre Gesellschaft gemieden. Später hatte er gedacht, es sei kein Zorn, sondern Schicksalsergebenheit, sogar Erbarmen. Heute wusste er, dass in den Augen des Kalbes nichts lag als das, was er selbst hineinlegte. So legte er Erbarmen hinein und schloss den Vorhang. Er drehte sich um und sah Rachel Mandelbaum, die Hand auf dem Bauch. Das Licht war schummrig, er konnte ihre Gesichtszüge kaum erkennen, aber sie schien ihm zu lächeln.
Als Seev Feinberg am nächsten Morgen aufwachte, entdeckte er erschrocken, dass Sonia schon angezogen war.
»Wohin?«
»Arbeiten. Mit Rumstehen am Strand kann man schwerlich sein Brot verdienen.« Er schloss sie in die Arme und sagte zu ihr: »Heute nicht. Heute kommst du mit nach Tel Aviv.«
»Was hast du in Tel Aviv zu tun?«
»Ich muss mich scheiden lassen. Und heiraten.«
Als Seev Feinberg und Sonia im Hauptquartier der Irgun eintrafen, fanden sie es voll mit Menschen. Zu den zwanzig fiktiven Ehepaaren drängten sich in dem Haus in der Bar-Kochba-Straße auch Kämpfer, die nicht an der Operation teilgenommen hatten, nun aber den frisch geschiedenen Frauen auflauern wollten, dazu Beamte und Politiker, Funktionäre und Spinner. Der Irgun-Vizechef bewegte sich zurückhaltend und würdevoll unter ihnen. An jenem Tag schüttelte er mehr Hände als in seinem ganzen bisherigen Leben, achtete aber darauf, jede Hand den Bruchteil einer Sekunde länger als sonst zu halten, was sein Gegenüber glauben machte, hinter dem Händedruck stehe wahre Zuneigung. Er spürte Sonias Kommen, noch ehe er sie sah, denn in den letzten sechs Wochen hatte er gelernt, ihren Orangenduft selbst auf belebter Straße zu wittern. Er hatte also ein paar Sekunden, um sich zusammenzureißen, ehe er sich umdrehte und vor ihr stand, sie in einem blauen Kleid, herrlich normal, aber nicht für ihn. Die Vorwarnung hatte nichts genützt. Der Irgun-Vizechef sah Sonia nur an, und schon wurde er leichenblass. Seev Feinberg merkte es nicht und stürzte sich mit Macht auf ihn.
»Mein lieber, guter Freuke! Kein Zweifel, ich schulde dir ordentlich was.« Der Irgun-Vizechef murmelte ein paar passende Worte, die er für derlei Notfälle parat hatte, wenn die Seele stürmte, aber der Mund funktionierte.
»Was hast du gesagt? Man hört dich nicht, Kamerad! Du solltest dir ein bisschen was von meiner Sonia abgucken, wie die gestern im ganzen Dorf unüberhörbar auf mich geschimpft hat.« Der Irgun-Vizechef bemühte sich redlich, ein Lächeln aufzusetzen, und brachte, als vielseitig begabter Mensch, auch eine durchaus glaubwürdige Grimasse zuwege. Seev Feinberg klopfte ihm auf die Schulter und küsste Sonia auf die Wangen, und der Irgun-Vizechef befingerte die Pistole an seiner Hose und fand Trost daran. Er hatte natürlich keineswegs die Absicht, Feinberg oder sich selbst etwas anzutun, aber das kalte Metall kühlte das Blut in seinen Adern und erinnerte ihn daran, dass es noch viele Araber zu töten galt, und vielleicht würde der Sieg der Heimat ja die Niederlage in der Liebe versüßen. Seev Feinberg drängte weiter ins Gewühl, und Sonia strebte ihm nach, hielt aber noch eine Extrasekunde bei dem Irgun-Vizechef inne, in der er seine Lungen mit dem Duft von Zitrushainen füllte und ihre Lippen, vollkommen in ihrer Schlichtheit, »Danke« flüstern sah.
Die Männer freuten sich, Feinberg wiederzusehen, und die Frauen gafften Sonia an. »Wegen so einer wie ein Franziskanermönch leben?« Jaffa Feinberg brach sogar in Tränen aus, und Sonia verschaffte sich die Hochachtung der Frauen, als sie der fiktiven Frau ihres Liebsten rasch ein Taschentuch anbot. Während sie noch die weinende Jaffa tröstete, ergriff Seev Feinberg ihre Hand. »Komm mit, ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.«
Seev Feinberg musste sich einen Weg durch den Kreis der Männer bahnen, die Bella Seigermann umringten. Als sie sich schließlich gegenüberstanden, er und Sonia zur einen, Bella zur anderen Seite, leuchteten Bellas Augen
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