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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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ausgesehen hat?« Während Bella Seigermann noch ihr Gehirn anstrengte, kam Jakob Markowitz ins Zimmer. Blass war er, hatte auch Gewicht verloren, aber sein Gang war soldatisch aufrecht. Sonia lief zu ihm, um ihn zu umarmen, doch in diesem Moment ging die Tür des Nebenzimmers auf, um die weinende Jaffa zu entlassen, und Seev Feinbergs Stimme dröhnte von drinnen: »Sonia! Komm! Wir heiraten!« Sonia küsste Markowitz auf die Wange und eilte mit strahlendem Gesicht ins Zimmer. Jakob Markowitz und Bella Seigermann blieben allein. Mittagslicht schien durch die Fensterscheiben und brach sich auf den bemalten Bodenfliesen. Bella Seigermann war zum Weinen schön in den Minuten, die verrannen, bis die Tür des Nebenzimmers sich wieder auftat. Seev Feinberg kam heraus, auf den Schultern Sonia Feinberg, die nun nicht mehr schimpfte und schmähte, sondern schallend lachte. Sonias Lachen hallte an den Wänden des Hauses wider und ließ die Rabbiner unbehaglich auf ihren Stühlen ruckeln.
    Als Seev Feinberg Jakob Markowitz entdeckte, wurde sein Lächeln noch breiter. »Du bist wieder gesund! Ich würde dich ja umarmen, mein Freund, aber wie du siehst – hab ich alle Hände voll.« An diesem Punkt warf Seev Feinberg Sonia in die Höhe. »Wir gehen Wein holen, um das Ereignis gebührend zu feiern, nur versprich mir, dass du nicht abhaust, bevor wir zurück sind!« Seev Feinberg wartete die Antwort nicht ab. Warum hätte er auch warten sollen? In seinen Armen trug er die eine, grundlegende Antwort auf alle Fragen oder Ereignisse, die da kommen mochten. Und die Antwort war »Ja«.
    Wieder blieben Jakob Markowitz und Bella Seigermann allein im Wartezimmer zurück. Er sah sie nicht an und sie ihn nicht. Jakob Markowitz musste alle Kräfte aufbieten, um Bella Seigermann nicht anzublicken. Bella Seigermann brauchte keinerlei Kraft, um Jakob Markowitz nicht anzublicken. Einen schweren Fehler begingen Jakob Markowitz und Bella Seigermann, als sie einander nicht anblickten. Jakob Markowitz irrte, als er die letzte Gelegenheit ungenutzt ließ, Bella Seigermann ruhig und gelassen und freundlich zu sehen. Bella Seigermann irrte sehr, als sie Jakob Markowitz nicht anschaute, denn sonst hätte sie die Veränderung bei ihm wahrgenommen. Er hieß zwar nach wie vor Jakob Markowitz, war aber doch ein anderer geworden. Bella Seigermanns Fehler wog schwerer als der von Jakob Markowitz. Sie glich einem Menschen, der einen vertrauten Fluss überqueren möchte und sich sagt: »Ich weiß, dass er schwache Strömung hat«, und nicht aufpasst und hineinsteigt und ertrinkt, weil es Winter ist und der Pegel angestiegen. So nahm sich Bella Seigermann nicht vor Jakob Markowitz in Acht, der sich mit trübem Wasser gefüllt hatte.
    »Jakob Markowitz«, dröhnte die Stimme des Rabbiners aus dem Nebenzimmer. Bella Seigermann ging zur Tür. Jakob Markowitz blieb stehen. Bella Seigermann drehte sich um und sah Jakob Markowitz verwundert an. Und Jakob Markowitz sah Bella Seigermann an und sagte: »Nein.«
    »Was heißt nein?«
    »Wir lassen uns nicht scheiden.«
    Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, musterte Bella Seigermann Jakob Markowitz’ Gesicht lange. Sehr lange. Sie erforschte sukzessive seine Züge, verweilte bei der energischen Furche auf der Stirn, den harten Augen, dem aufrechten Rücken. Waren diese Alarmzeichen schon immer da gewesen, ohne dass sie sich die Mühe gemacht hatte, sie durch einen tief dringenden Blick ins Gesicht ihres Mannes zu ergründen? Oder vielleicht, fürchtete sie, vielleicht waren sie allesamt eine Folge der Schiffspassage, die faulige Frucht tagelanger aussichtsloser Erwartung? Nun versuchte Bella Seigermann, sich Jakob Markowitz’ Physiognomie beim ersten Treffen, in der Wohnung im Osten der Stadt, in Erinnerung zu rufen. Das gelang ihr zwar nicht ganz – sie erinnerte sich nur noch an seinen lächerlich aufgesperrten Mund beim Anblick ihres Gesichts –, aber sie meinte doch mit Sicherheit, dass seine Augen damals nicht aus Feuerstein gewesen waren. Der Mann hatte sich verändert. Sie wusste nicht genau, wann oder warum das geschehen war, derlei Fragen beschäftigen ein gefangenes Tier nicht. So blickte Bella Seigermann Jakob Markowitz denn mit Rehaugen an und sagte: »Wenn du ein Ehrenmann bist, lässt du mich gehen.«
    Jakob Markowitz sagte sich im Stillen: Sie will mich nicht. Und wunderte sich, dass eine derart triviale Erkenntnis so höllisch weh tun konnte. Jakob Markowitz dachte, das dürfe man doch nicht

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