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Eine Nacht, Markowitz

Eine Nacht, Markowitz

Titel: Eine Nacht, Markowitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayelet Gundar-Goshen
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in ihre Reisetasche stopfte. Aber zuweilen, wenn eine starke Bö vom Meer die Wände erschütterte, meinte sie, einen feinen Hauch Orangenduft zu wittern, der von den Sofas und den Fliesen ausging und verflog, sobald sie ihn wahrnahm.
    Sie fand den Dichter dort, wo alle ihr gesagt hatten, dass sie ihn finden würde: am äußersten rechten Tisch im Strandcafé. Das ganze Lokal strotzte vor Selbstbewusstsein. Die Stühle, die Holztische und die Aschenbecher verkündeten dem Betrachter unisono, rein irrtümlich hier in den Dünen aufgestellt worden zu sein und nicht in den Straßen Berlins. Die Cafébesucher unterstützten diese Aussage nicht, konnten sie aber auch nicht ignorieren. Deshalb saßen sie schüchtern auf den Stühlen, brachten den Holztischen Respekt entgegen und benutzten ehrfürchtig die Aschenbecher. Sie wussten, wem sie gleichen wollten, und wussten, dass sie es trotz ihrer Bemühungen nicht taten. Sie konnten in Europa geschneiderte Kleider tragen, nach europäischen Rezepten gebackene Torten essen, sich die Nase mit bestickten Taschentüchern aus Europa putzen und Verse europäischer Dichter deklamieren. Doch sie konnten es nie mit derselben Leichtigkeit, der natürlichen Aristokratie derer tun, die wirklich und wahrhaftig Kinder Europas waren. Derer, die keine Juden waren. Die ersehnte, unerträgliche Selbstverständlichkeit der Polen oder der Deutschen oder der Österreicher war unnachahmlich. Sogar hier, in Palästina, war sie unverwechselbar. Kam ein ausländischer Gast ins Café, erkannten ihn alle auf der Stelle. Er trank seinen Kaffee nicht irgendwie anders, putzte sich auch nicht überaus anmutig die Nase mit dem Taschentuch. Aber die Tatsache, dass er sich völlig wohl in seiner Haut fühlte, wehte ihm wie ein Banner voraus, und man sah es auch an seinen Schultern, die nur die Last seines eigenen Lebenswegs, seiner eigenen Erinnerungen zu tragen hatten und keine zweitausend-Jahre-Verbannung-und-wer-weiß-was-noch-kommen-mag. Die Cafégäste bestaunten diesen Fremden, der nur seine ureigenen Sorgen und Erinnerungen und Ängste schleppte, und dachten sich, wie schön es doch ist, wenn der Mensch einfach nur Mensch sein kann. Dann wanderten verstohlene Blicke zu den Gästen an den Nebentischen, die selbst dann, wenn sie allein dasaßen, immer noch Ermordete der Pogrome und Opfer der Inquisition und aus Spanien Vertriebene und Aufständische gegen die Römer neben sich sitzen hatten und auch, warum nicht, die sechsunddreißig Gerechten, ohne die die Welt unterginge. Das ganze jüdische Volk drängte sich an den Kaffeehaustischen, selbst wenn die Stühle leer waren.
    Am Tisch des Dichters war es am vollsten, obwohl er immer allein dasaß. Er hatte noch nicht die Hoffnung aufgegeben, eines Tages selbst die Nachfolge des Nationaldichters Chaim Nachman Bialik anzutreten, und deshalb war er alle Tage damit beschäftigt, sich gebührend auf diese Aufgabe vorzubereiten. Er schrieb über die drei Stammväter und die vier Stammmütter, über den Auszug aus Ägypten und über Hesekiels Vision von den verdorrten Gebeinen. Und um die Relevanz für das Hier und Jetzt nicht zu verlieren, schilderte er jedes Pogrom, jede Bluttat, jedes Verbrechen, lobte und besang die Hilflosen mit ihren Gebrechen. So rief er denn in langer Reihe gemetzelte und gehenkte und geschlagene Juden herbei und blickte ihnen flüchtig ins Gesicht, nur um ein Bild zu erhaschen fürs nächste Gedicht. Und fühlte er die schreibende Hand ermüden, das Feuer der Erinnerung kurz erliegen, so dachte er nur an die Literaturbeilagen, die seinen Werken nichts erteilten als dreiste Absagen, und schon schossen ihm die Tränen in die Augen. In diesen Stunden, wenn sich in seinem Geist die Leiden des jüdischen Volkes mit der schmählichen Zurückweisung des Dichters mischten, brachte er seine besten Verse zu Papier.
    Ein Mensch, der sein Leben den Wundern der Dichtung weiht, findet nicht immer Zeit für die Belanglosigkeiten der Hygiene. Das Haar des Dichters ruhte in fettigen Strähnen auf seiner Stirn, wie zum Schädel kriechende Nacktschnecken. Während Bella auf ihn zuging, war sein Kopf übers Papier gebeugt, und so sah sie einige Sekunden lang nur sein Haar, ein Blickwinkel, der ihn nicht im besten Licht zeigte. Als er die gepeinigten Augen zu ihr aufhob, erinnerte Bella sich an genau denselben Blick im Gesicht des geliebten toten Dichters und wusste: Er sucht einen Reim. Die rastlos schweifenden Augen, der leicht geöffnete Mund, bereit, das

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