Eine Nacht, Markowitz
Kuscheln, und kein Mensch achtete darauf, dass draußen nicht der Wind heulte, sondern Rachel Mandelbaum.
Im Lauf der Stunden nahmen Rachel Mandelbaums Schreie eine neue Form an, eine deutsche Form. Das Sprachverbot, das sie ihrem Mund am Tag ihrer Ankunft im Land auferlegt hatte, wurde durch jeden Stich im Bauch weiter gesprengt. Solch schneidenden Schmerz, solche Angst hätte Rachel Mandelbaum nicht anders als auf Deutsch ausdrücken können. Und als sie die Sprache wieder auf der Zunge kostete, konnte sie nicht mehr damit aufhören. In den immer kürzeren Abständen zwischen den Wehen beklagte sie in ihrer Muttersprache bitterlich alles, was sie ohne Wiederkehr dort zurückgelassen hatte. Die Ballsäle und die Pflastersteine, den österreichischen Soldaten Johann in seiner feschen Samtjoppe, den Juden mit dem eingeschlagenen Schädel, der sie aus Wien aufs Schiff getrieben hatte, und dann auch Abraham Mandelbaum, der sie am Hafen abgeholt hatte, um sie zur Frau eines Schächters zu machen. Jakob Markowitz hätte sich die Ohren zuhalten mögen, denn er wusste, dass er Zeuge eines inneren Stromes wurde, eines unterirdischen Flusses, der vor unberufenen Augen jäh aus der Erde schoss. Neben Rachel Mandelbaum, die ihre Vergangenheit auf Deutsch beweinte, spürte er größere Verlegenheit als in jener Nacht, in der er ihre Brüste gesehen hatte. Denn jetzt war sie ihm völlig nackt und bloß vor Augen.
Der Mond ging gerade auf, als Rachel Mandelbaum aufhörte zu weinen und auf Deutsch rief: »Sie kommt raus!« Jakob Markowitz spähte verlegen zwischen Rachel Mandelbaums Beine. Seine Verlegenheit verwandelte sich in Glück, als er ein rotes Köpfchen in die Welt lugen sah. Eilig griff er danach und schrie Rachel an: »Pressen! Pressen!«, und Rachel presste und presste, und dann kam endlich das Baby heraus, und für einen schrecklichen Augenblick war es stumm.
Nur für einen Augenblick, denn gleich darauf füllten sich die kleinen Lungen mit einem bitterlichen Schrei. Jakob Markowitz zog sein Taschenmesser aus der Hosentasche und durchtrennte die Nabelschnur, wickelte das immer noch schreiende Baby in sein Hemd und legte es seiner Mutter in die Arme. Er dachte sich, wie recht es doch hat mit seinem Weinen, denn er erinnerte sich an Bella und an die Grausamkeit der Welt, und danach dachte er, wie sehr es sich doch irrt mit seinem Weinen, denn er spürte erneut das Köpfchen in seinen Händen im Moment der Geburt und war voll Mitgefühl.
Rachel Mandelbaum hielt Jakob Markowitz’ Hemd, aus dem ihr ein rot geweintes Menschenjunges entgegenschrie. Fast neun Monate hatte sie auf den Moment gewartet, in dem sie ein blondhaariges und blauäugiges, hellhäutiges und duftendes kleines Mädchen im Arm halten würde. In Markowitz’ Hemd lag ein kleiner Junge, schwarzhaarig und Abraham Mandelbaum wie aus dem Gesicht geschnitten. So lebendig hatte sie das Gesicht des kleinen Mädchens nach all den gemeinsam verbrachten Wochen im Geist vor sich gesehen, dass sie Markowitz das Baby beinah hingestreckt und gesagt hätte: »Das ist ein Irrtum.« Stattdessen gab sie Markowitz sein Hemd zurück, mit ihrem Sohn darin, und flüsterte: »Pass auf ihn auf, bis ich mich erholt hab.« Eigentlich flüsterte sie: »Wer ist dieses Kind, das in meinem Schoß herangewachsen ist, während mein Herz sich ein anderes wünschte?« So erschöpft waren Jakob Markowitz und Rachel Mandelbaum – sie von der anstrengenden Geburt, er von der anstrengenden Geburtshilfe –, dass sie wenige Minuten später an Ort und Stelle einschliefen. Bei Ankunft der Dorfleute, Abraham Mandelbaum an der Spitze, schlummerte das Baby sanft auf Jakob Markowitz’ Schoß.
Abraham Mandelbaum trabte voraus, die Dorfbewohner folgten einige Meter hinter ihm. Der Abstand war Abraham Mandelbaums Aufregung zuzuschreiben, aber auch den Bedenken der Dorfbewohner. Sie wollten dem Schächter zwar helfen, seine verschwundene schwangere Frau zu suchen, aber keiner wollte in seiner Nähe sein, falls die Suche in einer Tragödie enden sollte. In Rachels Schwangerschaftsmonaten hatten die Dorfbewohner Abraham Mandelbaum schätzen gelernt, der bei der Arbeit in der Fleischerei nun Liedchen summte und für Rachel Veilchen pflückte, um ihr eine Freude zu machen. Zuerst hatte die Veränderung Spott erregt, die Dorfleute hatten das Summen des plumpen Schächters nachgeäfft und Veilchen gepflückt, die sie ihren Frauen mit übertriebenen Gesten überreichten. Aber es liegt in der Natur des
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