Eine Nacht zum Sterben
Apfelsinen zurück.
Das Mädchen nahm den Kaffeebecher dankbar und trank; aber als er ihr ein Brot anbot, schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nichts essen.«
»Die Nacht wird lang«, sagte er. »Ich bewahre dir was auf für nachher.«
Der Zug fuhr ab, und sie stand auf, stellte sich in den Gang und sah den Lichtern von Marseille nach. Als sie sich umdrehte und wieder ins Abteil kam, schien ihr Gesicht gelöster.
»Geht’s jetzt besser?« fragte er.
»Ich dachte, es würde noch etwas passieren; daß vielleicht Kapitän Skiros nachkommen würde.«
»Das war nur ein schlechter Traum«, sagte er. »Versuch ihn zu vergessen.«
»Ich habe so viel schlechte Träume gehabt in letzter Zeit.«
»Erzähl mir doch was davon.«
Sie war sehr scheu und zurückhaltend und zögerte immer wieder; aber dann fing sie doch an zu sprechen. Sie hieß Famia Nadeem, und er hatte sie für jünger gehalten. Sie war neunzehn. In Bombay war sie geboren, ihre Mutter war bei der Geburt gestorben; ihr Vater war nach England ausgewandert und hatte sie der Pflege ihrer Großmutter überlassen. Ihr Vater hatte Erfolg gehabt; er war inzwischen Besitzer eines gutgehenden indischen Restaurants in Manchester und hatte vor drei Monaten, als die Großmutter starb, seine Tochter nach England holen wollen. Aber es hatten sich unvorhergesehene Hindernisse in den Weg gestellt; Schwierigkeiten hatten sich ergeben, die Chavasse nun nur allzu geläufig waren. Nach dem neuen Einwanderungsgesetz bekamen nur noch leibliche Verwandte von Bürgern des Commonwealth, die schon jahrelang in England lebten, ein Einreisevisum, wenn keine Arbeitserlaubnis vorlag. Famia fehlte eine amtliche Geburtsurkunde, die ihre Identität bewiesen hätte. Zu allem Unglück hatte es in diesem Punkt in letzter Zeit eine Menge Fälschungen gegeben, und die Behörden hielten sich nun strikt an den Buchstaben des Gesetzes. Wenn kein amtliches Zeugnis über die leibliche verwandtschaftliche Beziehung vorgelegt werden konnte, gab es kein Einreisevisum. Man hatte Famia in das nächste Flugzeug nach Indien gesetzt.
Aber ihr Vater hatte nicht aufgegeben. Er hatte ihr Geld geschickt und ihr von der Untergrundorganisation geschrieben, die sich darauf spezialisiert hatte, Leuten in ihrer Lage zu helfen. Sie war unglaublich naiv, und Chavasse hatte keine Mühe, von ihr alle Informationen über die Organisation zu bekommen, die er haben wollte.
Begonnen hatte ihre Reise in einer Exportfirma in Bombay; sie war über Kairo und Beirut gekommen und schließlich in Neapel von Leuten empfangen worden, die sie auf die Anya gebracht hatten.
»Aber warum hast du denn Skiros dein ganzes Geld gegeben?« sagte er.
»Er hat gesagt, bei ihm wäre es in Sicherheit. Für den Fall, daß mich jemand berauben würde.«
»Und du hast ihm geglaubt?«
»Er hat so einen netten Eindruck gemacht.«
Sie lehnte sich in ihren Sitz zurück und blickte durch ihr eigenes Spiegelbild im Fensterglas hinaus in die Dunkelheit. Sie war schön – zu schön für ihre Naivität, dachte Chavasse. Ein zartes und verletzliches junges Mädchen, ganz auf sich allein gestellt in einer Welt voller Alpträume.
Sie drehte sich um und errötete, als sie sah, daß er sie angeschaut hatte. »Und Sie, Mr. Chavasse? Haben Sie auch kein Visum bekommen?«
Er erzählte ihr seine Geschichte, ließ allerdings die Sache mit den Raubüberfällen aus. Er war Künstler, kam aus Sydney und wollte ein paar Monate in England arbeiten. Aber er hatte nicht gleich eine Arbeitserlaubnis bekommen und hätte lange darauf warten müssen. Und dazu reichte sein Geld nicht.
Sie glaubte ihm seine Geschichte und hatte nicht den geringsten Zweifel, obwohl seine Erzählung haarsträubend unglaubwürdig war. Sie lehnte sich zurück, und nach einer Weile fielen ihr die Augen zu. Er deckte sie mit seinem Mantel zu. Er spürte eine Art Verantwortungsgefühl für sie, was natürlich vollkommen absurd war. Sie bedeutete ihm nichts – überhaupt nichts. Jedenfalls würde mit einem bißchen Glück alles glattgehen, wenn sie erst einmal in St. Denise waren.
Aber was passierte, wenn sie die englische Küste erreichten und Mallory sich strikt an das Gesetz hielt? Man würde sie wieder nach Bombay abschieben. Nach einem illegalen Einreiseversuch konnte sie kein Visum mehr bekommen. Das Leben konnte manchmal doch kompliziert sein. Chavasse seufzte, verschränkte die Arme und versuchte einzuschlafen.
Kurz vor fünf Uhr morgens kamen sie in St. Brieuc an. Das
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